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„Wir tun uns damit selbst keinen Gefallen“

Julia Mourão Permoser, Professorin für Migration und Integration, über den Stop der Familienzusammenführung und die Folgen für Bildungssystem und Rechtsstaat.
Emilija Ilić  •  27. März 2025 Volontärin    Sterne  24
Julia Mourão Permoser: „Viele Rechtsexpert:innen gehen davon aus, dass diese Maßnahme rechtlich nicht standhalten wird.“ (Foto: Danube University Krems)
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Die Familienzusammenführung für anerkannte Flüchtlinge ist derzeit in Österreich ausgesetzt. Was erleben Betroffene jetzt konkret?

Die Zusammenführung der Familie wird verzögert. Besonders dramatisch ist das für Kinder und Ehepartner oder auch Eltern von unbegleiteten Minderjährigen, die in unsicheren Herkunftsländern verbleiben müssen. Aber auch für die Asylberechtigten, die schon bei uns in Sicherheit sind, zeigt die Forschung, dass die Familientrennung das Risiko für Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und andere psychische Erkrankungen deutlich erhöht. Die Trennung von Familien bei Geflüchteten führt zu einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit. Je länger die Trennung dauert, desto höher ist das Risiko. Das ist auch logisch, wir brauchen nur von uns ausgehen. 

Welche Auswirkungen hat das auf Österreich?

Wir tun uns damit selbst keinen Gefallen. Menschen mit psychischen Belastungen haben es schwerer, sich zu integrieren. Sie können schwerer arbeiten, schwerer Deutsch lernen, schwerer Freundschaften schließen. Auch für uns als Gesellschaft ist das kontraproduktiv.

Warum?

Man verpasst hier Chancen für eine schnellere, gelungene Integration. Wenn man vom Bildungssystem spricht, gilt: Je jünger die Kinder zu uns kommen, desto besser. Die Verzögerung wirkt sich negativ auf deren langfristige Bildungschancen und Integration aus.

Die Regierung argumentiert, dass die innere Sicherheit in Gefahr ist, da das Bildungssystem durch die Nachzüge überlastet sei. Wie bewerten Sie diese Maßnahme?

Viele Rechtsexpert:innen gehen davon aus, dass diese Maßnahme rechtlich nicht standhalten wird. Der Europäische Gerichtshof wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach kippen. Zwar erlaubt Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Ausnahmen in Notfällen – allerdings nur in tatsächlich außergewöhnlichen Situationen. Doch bis es zu einem Urteil kommt, bleibt die Maßnahme in Kraft.

Sehen Sie hier eine juristische Grauzone?

Der Stopp der Familienzusammenführung für anerkannte Flüchtlinge steht sinnbildlich für eine gefährliche Entwicklung: die Relativierung von Menschenrechten. Denn das Recht auf Familienzusammenführung leitet sich von einem grundlegenden Menschenrecht ab – dem Recht auf Familienleben. Das ist sowohl in der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch in der EU-Grundrechtecharta verankert.

Welche Auswirkungen hat das?

Wenn wir beginnen zu akzeptieren, dass fundamentale Rechte nur für bestimmte Gruppen gelten sollen, verlieren sie ihren universellen Charakter. Das beginnt bei Minderheiten, aber hört dort nicht auf. Menschenrechte müssen auch für die gelten, die wir vielleicht ablehnen oder nicht in unserer Gesellschaft haben wollen. Heute trifft es die Flüchtlinge, morgen vielleicht politische Gegner, übermorgen andere Minderheiten. Wer anfängt, Menschenrechte selektiv anzuwenden, gefährdet die Grundlage unserer liberalen Demokratie.

Einige Politiker, wie beispielsweise Alexander Ackerl von der SPÖ, bestätigten bei einer Podiumsdiskussion an der Universität Wien (13.03.25), dass sie davon ausgehen, dass der Europäische Gerichtshof die Maßnahme kippt. Warum macht die Regierung es trotzdem?

Man sendet ein Signal – an eine bestimmte Wählerschaft, die eine strengere Asylpolitik sehen möchte. Und wenn die Maßnahme gekippt wird, dann kann man die Schuld auf Brüssel schieben. Das ist also eine populistische Maßnahme, die nicht im Einklang mit unseren Werten und internationalen Verpflichtungen steht. Es deutet auf eine Verschiebung in der öffentlichen Meinung hin.

Wie hat sich der politische Diskurs um Migration verändert?

Früher war es Konsens, politisch Verfolgten Schutz zu bieten. Heute sehen wir politische Maßnahmen, die das Asylrecht systematisch schwächen – etwa durch Kooperationen mit Drittstaaten und die Externalisierung der Grenzen. Eine Sache, die in Österreich ungern so offen gesagt wird: Wir haben uns freiwillig und bewusst dazu verpflichtet, Geflüchteten Schutz zu geben. Das haben alle Nationalstaaten getan, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben haben – aus den Lehren des Zweiten Weltkriegs.

Was wäre aus Ihrer Sicht der richtige Weg?

Der Stopp der Familienzusammenführung gehört gestoppt. Gleichzeitig habe ich Vertrauen in Europas Rechtsstaatlichkeit. Ein positiver Aspekt an der aktuellen Situation ist, dass diese Maßnahme nun unter die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fällt. Sie wird also juristisch überprüft – und das bedeutet, wir werden eine klare Entscheidung dazu erhalten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Gerichtshof zu dem Schluss kommen wird, dass der Stopp der Familienzusammenführung nicht rechtmäßig ist und aufgehoben werden muss.

Die österreichische Regierung plant die Einführung von sogenannten Orientierungsklassen für Kinder und Jugendliche, die über Familienzusammenführungen nach Österreich kommen. Diese Klassen sollen grundlegende Deutschkenntnisse und Fähigkeiten für den Schulbesuch vermitteln, bevor sie in Regel- oder Deutschförderklassen wechseln. Könnte das eine Lösung sein?

Grundsätzlich ist jede Maßnahme zu begrüßen, die geflüchteten Kindern gezielte Unterstützung bietet. Auch wenn ich die Orientierungsklassen nicht im Detail kenne, ist klar: Kinder lernen am besten im Kontakt mit anderen. Eine vollständige Trennung ist pädagogisch problematisch – genauso wie das Fehlen gezielter Unterstützung. Mehr Zeit, pädagogische Konzepte und innovative Ansätze sind hier dringend notwendig – besonders angesichts der Überforderung vieler Schulen.


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