
Im niederösterreichischen 1.900 Seelen Ort Seyring, muss der langjährige Würstelstand „Ollas Wurscht“ einer neuen McDonald’s-Filiale weichen, sehr zum Ärger der Anwohner und Beteiligten. Nachzulesen ist die Story in den Niederösterreichischen Nachrichten (NÖN) als Symbol für etwas, das auch für sie selbst zu gelten scheint: Das vertraute Alte kann mit dem übermächtigen Neuen nicht mehr mit. Die NÖN kämpft ums Überleben.
Die Auflagen im Printbereich schwinden und die Werbeeinnahmen schrumpfen, denn das Leseverhalten verändert sich grundlegend. Zusätzlich belastet die angespannte wirtschaftliche Lage in Österreich die Situation. Rezession, steigende Arbeitslosigkeit und fehlende Investitionen lassen viele regionale Unternehmen ihre Werbebudgets kürzen. Keine guten Voraussetzungen für ein Medium, das teils auf lokale Anzeigenkunden angewiesen ist. Dazu kommen strukturelle Probleme, vom Digitalisierungsunmut bis zu finanziellen Engpässen. Wie geriet eines der ältesten österreichischen Blätter dermaßen in Schieflage?
Im Jahr 1868 kaufte der Bischof Joseph Feßler den St. Pöltner Boten und gestaltete ihn zur St. Pöltner Zeitung um. 1874 gründete die Diözese St. Pölten in Krems den Katholischen Preßverein, der 1965 elf Zeitungen aus Krems, St. Pölten, dem Wald- und Mostviertel zur NÖN zusammenschloss. Seit 1995 erscheint die NÖN in 28 Regionalausgaben, maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der jeweiligen Bezirke. Ihr Hauptsitz befindet sich in St. Pölten und sie ist die meistgelesene Kaufzeitung Niederösterreichs. Der Anspruch war von Anfang an klar. Information aus der Region, für die Region. Die NÖN tritt heute als unabhängiges Medium auf, knüpft dabei aber an ihr christlich-soziales Erbe an und setzt auf Werte, die dem Gemeinwohl dienen sollen.
Rund 200 fixe Mitarbeiter und mehr als 600 freie Journalisten sorgen dafür, dass jede Woche aus ganz Niederösterreich berichtet wird. An der Spitze stehen die Chefredakteure Walter Fahrnberger und Daniel Lohninger. Fahrnberger steuert die landesweite Berichterstattung und Sonderprodukte, Lohninger koordiniert die 28 Lokalredaktionen. Während viele Medien zunehmend digital und international agieren wollen, setzt die NÖN bewusst auf Nähe. Lokaljournalismus als gesellschaftlicher Kitt. Ob Gemeinderatsbeschluss, Feuerwehrfest oder Landtagssitzung, die NÖN berichtet über alles, was die Gemeinden bewegt.
Sei es ein neues Löschfahrzeug für die Feuerwehr, die Jahresbilanz des Seniorenvereins, ein neues Projekt im Naturpark oder das Programm der örtlichen Theatergruppe, keine Geschichte ist zu unbedeutend, um erzählt zu werden. Mehr als 300 Sonderprodukte und Beilagen jährlich, etwa zu den Themen Gesundheit, Auto, Bauen und Wohnen, veröffentlichen die Redakteure zusätzlich. „Auch Streit im Gemeinderat interessiert die NÖN-Leser“, sagt der freie Journalist Robert Gafgo, der seit zwei Jahren für die NÖN im Bezirk Korneuburg schreibt: „ Selbst wenn Lokaljournalismus oft belächelt wird, respektieren die Niederösterreicher die NÖN. Die Leute wollen wissen, was der eine über den anderen sagt.“ Besonders in ländlichen Regionen hat sie eine identitätsstiftende Funktion und trägt wesentlich zur Meinungsbildung bei.
Manchmal kommt auch Kritik. Als die NÖN plante, das traditionelle Format der kirchlichen Terminübersicht abzuschaffen, erreichte laut dem Regionaljournalisten ein handgeschriebener Wutbrief die Redaktion, in dem es hieß: „Wenn die NÖN jetzt die wöchentlichen Kirchentermine ignoriert, ist der Islamisierung des Abendlandes Tür und Tor geöffnet.“
Die Printausgabe der NÖN erreichte 2024 wöchentlich rund 450.000 Leser, davon 368.000 aus Niederösterreich. Damit ist sie die reichweitenstärkste Kaufzeitung im Bundesland, noch vor der Krone. Jedoch erreichen die kostenlosen Bezirksblätter Niederösterreich wöchentlich 538.000 Leser und haben somit eine noch größere Reichweite.
Die NÖN erscheint einmal wöchentlich und kostet 4,60 Euro pro Ausgabe. Trotz diverser digitaler Angebote und der Einführung unterschiedlicher Abo-Modelle wie NÖN-Digital, NÖN-Premium und NÖN-Print bleibt das Blatt nicht von dem landesweiten Rückgang der Printauflagen verschont. Die Verkaufsauflage sank 2024 um 4.000 Exemplare auf 69.300 Stück. Über eine Million Nutzer verzeichnen jedoch die digitalen Plattformen der NÖN, noen.at, meinfussball.at und nitelife.at, was für eine Verbesserung der Onlinepräsenz spricht.
Die NÖN gehören dem Niederösterreichischen Pressehaus (NÖP), 54 Prozent davon gehören der römisch-katholischen Diözese St. Pölten, 26 Prozent dem Presseverein der Diözese St. Pölten und zwanzig Prozent der Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien. Die Bundeswettbewerbsbehörde bestätigte die Anteile und die gelten seit dem 1. Jänner 2006. Seit Juli 2024 liegt ein genehmigter Antrag zur Erhöhung des Raiffeisen-Anteils auf 28,6 Prozent vor, der jedoch noch nicht vollzogen ist.
Die Eigentümer versuchen nun, den Sanierungsfall NÖN mit einem neuen Management in die Zukunft zu retten. Erst kürzlich übergab Micheal Ausserer die Geschäftsführung des Niederösterreichischen Pressehauses, Verlag der NÖN und der Burgenländische Volkszeitung (BVZ), an Gert Bergmann. Noch bis Ende April leiten sie das Unternehmen gemeinsam, ab Mai übernimmt Bergmann allein. Sein bisheriger Karriereweg? Internationale Stationen im VW-Konzern in Deutschland, Japan, China, Brasilien und Indien. Der 61-Jährige war einst Financial Director der Formel 1 und galt auch als Buchhalter von Bernie Ecclestone. Medien zählen also nicht zu seinem Erfahrungsportfolio, und doch soll Bergmann die NÖN aus der wirtschaftlichen Krise retten.
Denn der Befund ist klar. Das Verlagshaus schrieb 2023 einen Verlust von rund 3,3 Millionen Euro, für 2024 wird ein noch größeres Minus erwartet. Ausserer senkte die Eigenkapitaldecke zuletzt von einer Million auf 35.000 Euro, um kumulierte Bilanzverluste auszugleichen, die 12,54 Millionen Euro betrugen. Doch die strukturellen Probleme bleiben bestehen.
Die Zeitung kämpft mit zwei grundlegenden Problemen. Mit dem Rückgang der Printauflage geht auch ein Generationenwechsel verloren, denn junge Menschen greifen kaum noch zur Zeitung. Ein Blick auf die Werbekunden verdeutlicht auch, dass sich das Angebot der NÖN hauptsächlich an ein älteres Publikum richtet, denn besonders häufig finden sich Inserate für Arthrosemittel, Bluthochdruckmedikamente oder altersbedingte Anti-Schwindeltabletten. Jedoch buchen auch namhafte Marken wie MediaMarkt, die Österreichischen Lotterien, Libro oder Hofer digitale Werbeflächen in der NÖN. Im Jahr 2023 schaltete auch das Land Niederösterreich 1.557.000 Euro in der NÖN. Das sind mehr als fünf Prozent des Umsatzes und knapp das Dreifache des Jahresgewinns.
Die große Frage lautet aber: Wie lässt sich die Zeitung attraktiver für ein junges Publikum machen? Denn auch junge Journalisten, die bei der NÖN anfangen, bleiben oft nur kurz, für viele sei das Blatt nur ein Sprungbrett in den Beruf, so Gafgo. Auch das 2024 eingeführte Kindermagazin kleine nön wirkt wie ein eher holpriger Versuch, junge Zielgruppen nachhaltig fürs Zeitungslesen zu begeistern.
Das kränkelnde Geschäftsmodell zeigt sich in der gesamten Hybris des Blatts. Zeitungen lassen sich heute nicht mehr gleich verkaufen wie im vergangenen Jahrhundert, doch genau hier hängt die NÖN zurück. Vieles wirkt halbherzig und der Mut und Wille, eine neue Strategie zu entwickeln, scheint schlicht nicht vorhanden.
Ein zentrales Problem der NÖN ist die verschleppte Digitalisierung. Denn anstatt mehr in Onlineangebote zu investieren, floss das Geld in kostspieliges Regional-TV. Die NÖN leidet unter einer schwachen Social-Media-Präsenz, die meist St. Pölten in den Fokus nimmt. Diese starke Ausrichtung auf die Landeshauptstadt, gepaart mit einer Beratungsresistenz und der Tatsache, dass alle wichtigen Entscheidungen für die NÖN dort diktiert werden, scheint das geistige Erbe von Erwin Pröll, Niederösterreichs langjährigem Landeshauptmann, zu sein. Heute sind die Konsequenzen dieser Linie deutlich zu spüren. Wenn gemeinsam mit Print-Abos Brotback- oder Wanderbüchern verschenkt werden müssen, um die Zahlen nach oben zu treiben, kann das wohl kaum als funktionierende Strategie gelten und wirkt alles andere als zeitgemäß.
Bergmann bringt frischen Wind und ein klares Ziel. Die NÖN muss sich in ein Unternehmen verwandeln, das mehr erwirtschaftet, als es verbraucht. Übersetzt: Der Cashflow muss wieder ins Plus drehen, die Reserven dürfen nicht weiter schmelzen. Der Weg dorthin? Jedes Produkt des Hauses, Print, Digital oder TV müsse zu einem gemeinsamen strategischen Leitbild passen, so Bergmanns Ansage. Projekte wie NÖN-TV, die nicht hineinpassen oder wirtschaftlich aus dem Rahmen fallen, stehen zur Disposition. Denn Halbherzigkeit kann sich das Verlagshaus nicht mehr leisten. Auch die Diözese St. Pölten hat bereits vor einem halben Jahr abgelehnt, Kirchenbeitragsgelder für die NÖN bereitzustellen.
Gert Bergmann plant eine grundlegende Neuausrichtung mit frischen Geschäftsmodellen und ehrgeizigem Zeitplan. In hundert Tagen, so sagt er im Interview mit der Presse, will er sich einen besseren Überblick über den Ernst der Lage verschafft haben.
Wer in Niederösterreich über Regionalpolitik berichtet, kommt auch an der Volkspartei kaum vorbei. Die ÖVP ist dort traditionell stark, was sich auch auf die regionale Medienlandschaft und Inseratenvergabe auswirkt. Die NÖN berichtet umfassend über Landespolitik, wobei die ÖVP als Landeshauptmann-Partei viel Raum einnimmt. „Du kommst an einer Partei, die so stark ist wie die ÖVP in Niederösterreich nicht vorbei, wenn du Berichterstattung machst“, sagt Regionalredakteur Gafgo.
Trotz des Selbstbilds der NÖN als unabhängiges Regionalmedium offenbaren Recherchen und Insiderberichte ein anderes Bild. Das Blatt agiert in seiner politischen Berichterstattung auffällig zurückhaltend, insbesondere gegenüber der Landespolitik und der dominierenden ÖVP. Laut dem Investigativmagazin DOSSIER herrscht in Teilen des Bundeslands ein Klima der Abschreckung gegenüber unliebsamer Berichterstattung. Die Nähe zwischen Redaktion und politischer Macht führe zu einer Art stillschweigender Zensur. Journalisten, die über Missstände oder Skandale berichten, riskieren den Zugang zu Informationen oder gar ihren Job.
Ein konkreter Fall: Nach einem kritischen Artikel soll ein NÖN-Reporter mehr als ein Jahr lang keine Auskünfte mehr von der betreffenden Gemeinde erhalten haben. Artikel mit Kritik an ÖVP-Politikern werden intern entschärft oder gar sanktioniert, investigativer Journalismus findet nur innerhalb klarer Grenzen statt. Das Fazit von DOSSIER ist vernichtend. Um den Journalismus in Niederösterreich sei es „schlecht bestellt“, in einem Ausmaß, das an systematische Einflussnahme grenzt. Diese Umstände haben sich laut den Chefredakteuren der NÖN Daniel Lohninger und Walter Fahrnberger anscheinend mittlerweile verändert.
Die Medienbranche steht unter Druck und obwohl niemand wirklich daran glaubt, dass Print komplett aussterben wird, hat die NÖN mit Gert Bergmann eine neue Chance, doch noch die Kurve zu kratzen. Nun heißt es darauf zu hoffen, dass seine Strategien auch möglichst bald Wirkung zeigen, denn ob das Blatt noch weiter zurückfällt oder neu aufbricht, entscheidet sich jetzt.
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