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Der Mythos der Maikäfersuppe

Maikäfer, zerstoßen, in Butter geröstet und als Suppe serviert oder doch lieber mit Zucker und Honig überzogen als Dessert? Heute mag der Gedanke befremdlich erscheinen, aber noch bis ins 20. Jahrhundert war der Maikäfer auf den Tellern Mitteleuropas keine Seltenheit. So lautet zumindest eine weit verbreitete Erzählung. Doch was steckt wirklich hinter der Maikäfersuppe?
Robert Gafgo  •  25. April 2025 Redakteur    Sterne  328
Ob Frühlingsbote, Kulturphänomen oder gefürchteter Schädling, die Facetten des Maikäfers sind zahlreich. Doch wie verbreitet war er als Nahrungsmittel? (Foto: Shutterstock)
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Ein monotones Brummen erfüllt die laue Frühlingsluft. Zu Tausenden sitzen Maikäfer in den Bäumen. Nachdem sie jahrelang unterirdisch ihr Dasein als Larve gefristet hatten, wagten sie sich Ende April erstmals aus der Erde. Nach vier bis sechs Wochen als ausgewachsener Käfer endet ihr Leben. Ist die Paarung erfolgt und sind die Eier gelegt, so ist ihre Arbeit getan. Was bleibt, sind Massen toter Maikäfer, die den Boden übersehen. Es ist unmöglich, ihnen aus dem Weg zu gehen. Ähnlich dem Geräusch von trockenem Herbstlaub erzeugt ein jeder Schritt ein knisterndes Krachen.

Jagd auf den Frühlingsboten

Szenen wie diese kennen die meisten heute nur noch aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Doch der Maikäfer war einst mehr als eine Anekdote. Er war gelebte Realität und alljährlicher Begleiter. Besonders in den gefürchteten Maikäferjahren wurde er durch sein massenhaftes Aufkommen zu einer bedrohlichen Plage für Land- und Forstwirtschaft. Die ausgewachsenen Käfer fressen überwiegend die Blätter von Laubbäumen. Weit verheerender ist der Schadfraß ihrer Larven, der Engerlinge, die sich an den Wurzeln von Bäumen und Feldfrüchten zu schaffen machen.

Dementsprechend kam es im 19. und 20. Jahrhundert vielerorts zu Sammelaktionen. Kinder gingen besonders gerne auf Maikäferjagd, versprach doch jedes gesammelte Kilo ihnen eine Prämie von einigen Hellern oder Pfennigen. Doch was tun mit Millionen gesammelter Käfer? Als Dünger oder Tierfutter waren sie eine beliebte Ressource. Sie waren im Überschuss vorhanden und reich an Nährstoffen. Der Weg war nicht weit, bis der Maikäfer seinen Weg in die Küche fand.

Ein vortreffliches und kräftiges Nahrungsmittel“

Ein Bericht des Magazins für die Staatsarzneikunde aus dem Jahr 1844 sorgt bis heute immer wieder für Aufsehen. Darin beschreibt der oberhessische Medizinalrat Johann Joseph Schneider Maikäfer als ein in seiner Heimatstadt Fulda gängiges Lebensmittel. Unter Studenten seien sie roh eine beliebte Speise, Bäckereien bieten sie überzuckert an und zu Banketten seien sie kandiert ein begehrtes Dessert. Auch in der Suppe seien sie verbreitet. Schneider beschreibt ihren Geschmack als vortrefflich und der Krabbensuppe ähnlich.

In einem Rezept für Maikäfersuppe rechnete er dreißig Käfer pro Person. Möglichst frisch sollten sie sein. Zunächst werden die Käfer oder ihre Larven mit dem Mörser zerstoßen und in Butter angeröstet. Danach werden sie in einer Bouillon aufgekocht. Gegen Ende muss die Brühe durch ein feines Sieb gegossen werden, um die Kleinteile der zerstoßenen Chitinpanzer von der Suppe zu trennen.

Das Ergebnis ist eine Suppe, so bräunlich wie die Flügel der Maikäfer. Von angenehmem Geruch soll sie sein und schmackhafter und kräftiger als Krabbensuppe. „Alle Gäste, welche bei mir, ohne es zu wissen und ohne es zu erfahren, Maikäfersuppen genossen haben, verlangten doppelte, ja dreifache Portionen!“, schrieb Schneider seinerzeit.

Auf einem gedeckten Tisch steht ein Teller voll gerösteter Insekten.Während Insekten in Europa oft als Kuriosität gelten, sind sie in Asien, Afrika und Südamerika fester Bestandteil der Ernährung. (Foto: Shutterstock)

Zweifelhafte Geschichte

Wie flächendeckend die Verbreitung des Maikäfers als Nahrungsmittel wirklich war, lässt sich heute schwer einschätzen. Dem Bericht Schneiders nach begegneten nicht wenige Zeitgenossen seiner Suppe mit Abneigung. Zwar blieb der kulinarische Ruhm aus, doch entwickelte sich die Maikäfersuppe zum Liebling des Journalismus.

Seit dem 19. Jahrhundert findet sich das Rezept bis heute wiederholt in Berichten und Artikeln, egal ob analog oder online. Zugegeben, der Sensationsfaktor der Geschichte ist unbestreitbar. Suppe aus Maikäfern, das ruft im Publikum Staunen und Ekel hervor, gefolgt von einem Bedürfnis, mehr darüber zu erfahren. Früher druckten Zeitungen das Rezept gerne zu Maikäferjahren. Heute tischen Redaktionen die Maikäfersuppe als eine kuriose Tradition der Vergangenheit auf, die in Europa angeblich weit verbreitet war.

Der Fakt, dass Schneiders Rezept des Jahres 1844 die älteste und einzige deutschsprachige Quelle für eine Maikäfersuppe ist und alle darauffolgenden Rezepte sich nur auf Schneider berufen oder dessen Rezept abwandeln, suggeriert eher das Bild einer konstruierten Geschichte als einer weit verbreiteten Tradition.

Dennoch sind vereinzelte lokale Verbreitungen als Nahrungsmittel nicht unwahrscheinlich, finden sich doch zumindest in der Volksheilkunde verschiedene Belege einer Verwendung des Maikäfers. In Liebestränken bis zu Tinkturen gegen Bisse tollwütiger Tiere soll der Maikäfer in alten Zeiten Verwendung gefunden haben.

Konstruierte Vergangenheit mit Zukunftspotential

Heute ist der Maikäfer aufgrund verschiedenster Umweltfaktoren nur noch selten anzutreffen. Der massenhafte Einsatz des Insektizids DDT nach dem Zweiten Weltkrieg brachte ihn an den Rand der Ausrottung. Reinhard Mey besang 1974 in seinem Lied Es gibt keine Maikäfer mehr bezeichnenderweise das Verschwinden seiner entfernten Namensvettern.

Jedoch erholten sich in Gebieten Deutschlands und Frankreichs vereinzelte Populationen wieder vom Schlag der chemischen Keule. Begünstigt durch das Verbot des wahrscheinlich krebserregenden DDTs wuchs der Maikäfer zu alter Größe heran. Für die betroffene Land- und Forstwirtschaft ist das Insekt wie einst wieder zur Plage geworden. In Anbetracht der steigenden Akzeptanz von Speiseinsekten könnte der Suppentopf hier, wenn auch nur in ergänzender Weise, sein Comeback in der Schädlingsbekämpfung feiern. 


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