
Ein Schlagstock heiratet eine Cappuccino-Tasse, die hauptberuflich als Ballerina auftritt. Ein Baum ist deswegen eifersüchtig, jedoch verhaften ihn im nächsten Augenblick laufende Toiletten. Was passiert hier? Ist es eine Szene aus dem Surrealismus, die beschrieben wird, oder doch aus einem Fantasy- Roman? Was es auch sein mag, es ergibt keinen Sinn. Das Gehirn des Konsumenten muss über keine Zusammenhänge nachdenken, schlicht und ergreifend, weil es keine gibt. Es gammelt einfach so konsumierend vor sich hin – Brainrot eben.
Das Phänomen Brainrot bezeichnete ursprünglich ein Gefühl mentaler Überlastung durch Reizüberflutung. Durch Plattformen wie TikTok und Instagram wurde daraus ein eigenes Genre, das sich diese immer weiter voranschreitende Gehirnverrottung zur Aufgabe macht.
„Brainrot bezeichnet die Sorge, dass man über den niedrigqualitativen Content, insbesondere auf TikTok, das Gehirn nachhaltig schädigt“, so definiert Tobias Dienlin, Lehrender für Medienpsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich, das Phänomen. „Aber der Begriff ist natürlich eine extreme Formulierung, die man auf keinen Fall wörtlich verstehen darf“. Entwarnung also, nichts vergammelt hier wirklich – zumindest nicht sichtbar.
Typisch für das Genre sind hyperaktive, oft absurde, repetitive und visuell überladene Inhalte, KI- generiert, die von Anfang bis Ende sinnlos sind. Es gibt Brainrot-Videos in den verschiedensten Sprachen, von Polnisch über Italienisch bis sogar Bayrisch. Beliebt sind vor allem sogenannte Audio-Loops, also kurze, sich nahtlos wiederholende Klang- oder Musikabschnitte, aber auch „Sigma- Edits“, also übertrieben männlich dargestelle Zusammenschnitte von Meme- Figuren aus dem Brainrot-Universum.
Natürlich lässt sich Brainrot auch kritisch und intellektuell konsumieren. Da sind Akademiker, die die Videos mit ihrem ausschweifenden Wortschatz und Wissen historisch in die Kunstgeschichte einordnen, Parallelen zu Dadaisten ziehen, über die scheinbar sinnlosen Clips abstrakt nachdenken.
Und dann ist da die breite, konsumierende Masse mit den reizgetriebenen,dopaminsüchtigen Gehirnen. Sie wählen die angenehmere, passive Berieselungsoption des Konsums: Scrollen, weiterklicken, scrollen.
Von Ihnen gibt es mehr als von den kritischen Akademikern, Brainrot geht durch die Decke. Klicks in Millionenhöhe. Ganze Staffeln, unzählige Folgen, die immer abstruser und realitätsentfernter werden. Die Zuschauer müssen an der Stange gehalten werden.
Für viele ältere Generationen ist GenZ genau deswegen verloren, die jungen Leute verfügen über keinerlei Differenzierungsfähigkeit, die Gehirne sind kaputt, sie ließen sich nur noch von Online-Inhalten leiten.
Aber vielleicht ist dieser passive Konsum gar keine intellektuelle Bankrotterklärung, sondern schlicht eine Überlebensstrategie, um nicht unterzugehen in der Medienflut, der diese Generation tagtäglich ausgesetzt ist.
Ist es überhaupt noch denkbar, oder wünschenswert, alles, was man sieht intellektuell zu reflektieren? Das Konsumenten-Gehirn hört aus Selbstschutz-Gründen auf zu hinterfragen, es droht Überlastung, zu viel Denken ist anstrengend. Überfordernd. Gen Z konsumiert und hinterfragt nicht mehr.
Dieses Bedürfnis nach Kopf abschalten, genau das ist der Grund, weshalb die sinnlosen Geschichten funktionieren. Das Gehirn ist schon so weit abgestumpft, es hört jeden Tag so viele schockierende Dinge: Damit Inhalte unsere Aufmerksamkeit zu erregen, müssen die Creator immer noch einen obendraufsetzen. Oder es muss so abstrakt und fern von jeglicher Realität sein, dass es sich in dieser Hinsicht vom Restlichen absetzt. Brainrot schafft genau das.
2024 wurde das Wort Brainrot zum Oxford- Wort des Jahres gewählt.
Der Erfolg des Genres lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Brainrot triggert das Belohnungsstystem durch Überraschung, Lautstärke und unerwartete visuelle Reize. Wir konsumieren es mit unserem Meta- Bewusstsein, wissen also bereits während dem Konsum, dass es sinnlos ist – jedoch ist genau das der Reiz daran. Menschen suchen außerdem ständig nach Ablenkung, vor allem in krisenbehafteten Zeiten wie diesen- irgendwo ist Brainrot also auch ein „coping mechanism“, also eine Art, sich von aktuellen Dingen abzulenken.
Die Suche nach Ablenkung gibt es aber nicht erst seit Beginn des digitalen Zeitalters, der Mensch wurde durch die Erfindung der mobilen Endgeräte nur sehr fündig in ihnen als Zeitfresser. Dienlin erläutert: „Es ist auch so, dass man natürlich früher nicht die ganze Zeit nur Goethe, Schiller und Bourdieu gelesen hätte, sondern man hat dann eben viel Fernsehen abends geschaut, stundenlang. Und es ist auch so, dass der Mensch sich zerstreut. Das war schon immer Teil des Medienkonsums und der Lebensweise.“ Der Drang nach entspannter Ablenkung von der oft anstrengenden Realität war also schon immer da – geändert hat sich nur die Art und Weise, diesen Drang zu befriedigen. Der Mensch und seine Bedürfnisse ändern sich selten grundlegend – meistens ist es doch seine Umwelt.
Ist dieses absurde Entertainment aber wirklich so sinnlos wie es zuerst scheint? Wie bereits oben erwähnt, fallen gebildeten Beobachtern Ähnlichkeiten zu bereits da gewesenem auf, beispielsweise zu Marcel Duchamps „Fountain“ bei Skibidi-Toilet. Schaut man tiefer, sieht man mehr, interpretiert vielleicht auch mehr. Aber ist das nicht bei allem so? Interpretiere der Mensch alles, was er mit seinen Sinnen wahrnähme, würde er wahrscheinlich nach kurzer Zeit vor Reizüberflutung aus der Haut fahren. Betrachtet man für eine längere Zeit die Wolken, so erkennt man irgendwann Drachen, Bäume und mehr in ihnen. Betrachtet man vom Bett aus den Wäscheberg im dunklen Zimmer, wird eine gruselige Silhouette aus ihm.
Ist Brainrot die Art der neuen Generation, sich auf ihre ganz eigene Weise auszudrücken? Irgendwo könnte es „A thoughtful sort of nonsense“ sein, also eine sehr be- und durchdachte Art von Sinnlosem. Vielleicht ist Brainrot der digitale Dadaismus unserer Zeit: Heute noch ein komisches, sinnloses Ding, über das sich lustig gemacht wird – irgendwann später Weltgut. Diese Frage lässt sich jedoch erst aus der Zukunft beantworten: Ob kulturelle Bewegung mit Tiefgang oder doch nur Symptom der Zeit merkt man immer erst rückblickend.
„Unser Gehirn spiegelt irgendwo das wider, was wir ihm aussetzen. Der Content, den wir konsumieren, beeinflusst am Ende daher auch wie wir denken und was wir sind“, betont Dienlin.
Social Media wirkt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ auf unsere Aufmerksamkeitsspanne aus, laut Dienlin gibt es zunehmend begründete Verdachte darauf. Ein ausgewogener Konsum wäre also – nicht nur, aber auch in Bezug auf Brainrot – definitiv mehr als ratsam, sofern man den noch nicht verrotteten Teil seines Gehirns behalten möchte.
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