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Die stille Macht in Europas Flüchtlingspolitik

Das International Centre for Migration Policy Development ist eine der einflussreichsten Organisationen Europas und zugleich eine der unbekanntesten. Mit Sitz in Wien operiert es an den Außenrändern der EU, wo es abseits der Öffentlichkeit Migration gestaltet. Jetzt will die ehemalige ÖVP-Ministerin Susanne Raab an die Spitze. Ein Blick auf Europas diskrete Migrationsagentur.
Robert Gafgo  •  16. Mai 2025 Redakteur    Sterne  386
Seit neun Jahren führt der ehemalige ÖVP-Vizekanzler Michael Spindelegger (Bild Mitte)das ICMPD. (Foto: ICMPD)
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Rothschildplatz 4 im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Gepflasterte Wege verlaufen zwischen den Beton- und Glasfassaden der Austria Campus-Bürokomplexe. In einem der Großraumbüros befindet sich der Sitz des International Centre for Migration Policy Development (ICMPD). Den meisten noch als ehemaliger ÖVP-Bundesparteiobmann und -Vizekanzler bekannt, ist Michael Spindelegger seit 2016 Generaldirektor des ICMPD. Zu Jahresende verabschiedet er sich in den Ruhestand. Susanne Raab, ehemalige ÖVP-Integrationsministerin, will ihm nachfolgen. Auch sie sorgt sich um ihr Leben nach der Politik und hat sich für seine Nachfolge beworben, wie eine Aussendung des Bundeskanzleramts Anfang des Jahres belegt.

Gute Chancen hat sie jedenfalls. Neben ihren beruflichen Kompetenzen ist sie international vernetzt. In ihrer Vergangenheit gab es zudem bereits Berührungspunkte mit dem ICMPD, etwa als Raab die von der Organisation veranstaltete Vienna Migration Conference 2023 eröffnete. Doch was auf den ersten Blick wie ein klassischer Versorgungsposten für alternde Politiker wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Schlüsselposition in der europäischen Migrationspolitik – mit weitreichendem Einfluss und wenig öffentlicher Kontrolle.

Hinter einem Rednerpult blick eine blonde Frau gestikulierend Richtung Publikum.Susanne Raab und Michael Spindelegger eint nicht nur das Interesse am ICMPD. Für beide war Sebastian Kurz eine Schlüsselfigur. Spindelegger war dessen Mentor, Raab dessen Weggefährtin. Raab will nun Spindelegger an der ICMPD-Spitze ablösen. (Foto: Hans Klaus Techt, APA-PictureDesk)

Anfänge eines Phantoms

1993 von Österreich und der Schweiz ins Leben gerufen, um als Plattform für den Austausch in der Asylpolitik zu dienen, wuchs das ICMPD zu einer internationalen Organisation mit 21 Mitgliedsstaaten heran. Es geht laut Selbstdarstellung um „Förderung eines umfassenden, fairen und nachhaltigen Migrationsmanagements“. Indem es einen „ganzheitlichen und regionalen Ansatz“ verfolgt, will das ICMPD den „Dialog zwischen den betroffenen Stakeholdern fördern“ und dadurch die Migrationspolitik verbessern. Das ICMPD ist mit 500 Mitarbeitern von der Forschung bis zur Lieferung von Überwachungsdrohnen in allen Bereichen des Migrationsmanagements tätig.

Unter Spindelegger erhöhte sich das Jahresbudget von 24,3 Millionen Euro 2016 auf 101,4 Millionen 2024. Davon stellten 78 Prozent die Europäische Kommission zur Verfügung, acht Prozent kamen von ICMPD-Mitgliedsstaaten, 13 Prozent von anderen Staaten und 0,1 Prozent zahlten die UN und andere Institutionen. Ein beachtlicher Fluss an öffentlichen Geldern.

Zwischen Migrationsmanagement und Menschenrechten

Was genau passiert mit dem Geld? Zu intransparent seien die ICMPD-Programme, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Das ICMPD würde die „Drecksarbeit Europas“ erledigen und die Flüchtenden „wegmanagen“. Viele Länder würden die politische Verantwortung für fragwürdige Migrationsprojekte an die Organisation auslagern. Zwar fließt immer noch öffentliches Geld, doch genießt das ICMPD als internationale Organisation Sonderstatus. Zu Transparenz ist sie nicht verpflichtet.

Eine der Problemzonen: Beim Schutz von Europas Grenzen stellt das ICMPD lokalen Behörden Ausrüstung und Ausbildung zur Verfügung. Dies auch in Staaten, die regelmäßig die Menschenrechte von Geflüchteten verletzten.

Die Zusammenarbeit des ICMPD mit dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Libyen ist einer der bekanntesten Fälle. Die dortige Küstenwache inhaftierte Geflüchtete nachweislich in Foltergefängnissen und erpresste aus deren Hinterbliebenen Lösegelder für deren Freilassung, wie Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen beanstanden.

Im Nachbarstaat Tunesien soll die Küstenwache Motoren von Flüchtlingsbooten abmontiert und die Passagiere auf offenem Meer ihrem Schicksal überlassen haben. ICMPD veranstaltete laut der Tageszeitung DerStandard und dem ZDF gemeinsam mit französischen Partnern vor Ort einen Workshop für das „management of dead bodies at sea“, also für den Umgang mit Wasserleichen.

Korruption und Nächstenliebe

Der Bau einer Internierungsanstalt im bosnischen Flüchtlingslager Lipa sorgte ebenfalls für Aufregung um die Migrationsagentur. Das ICMPD errichtete das Gefängnis ohne Baugenehmigung. 2024 beschlossen lokale Behörden den Abriss noch vor der eigentlichen Inbetriebnahme. 500.000 Euro an EU-Geldern waren weg.

In Bosnien-Herzegowina ereignete sich auch der jüngste ICMPD-Skandal. Mit schweizerischer Förderung wollte die Agentur eine Migrationsdatenbank aufbauen. Der für die Ausschreibung zuständige Experten arbeitete gleichzeitig für die Firma, die den Auftrag bekam. Erst der Bericht eines Whistleblowers deckte den Interessenkonflikt auf, worauf die Schweiz das Projekt abbrach.

Das primäre Ziel des ICMPD scheint immer die Verhinderung von Migration zu sein, selbst bei Projekten in der Entwicklungshilfe. So etwa fördert die Organisation die Reintegration zurückgekehrter und die berufliche Qualifizierung potenzieller Migranten. In sogenannten Migrant Resource Centres klärt ICMPD über legale Migrationswege und die Schrecken von Schlepperbanden auf. Warum und vor welchen Gefahren Menschen fliehen, spielt in den Konzepten oft eine untergeordnete Rolle.

Die stille Macht hinter der Abschottung

Trotz einer langen Liste von Kritikpunkten verschwindet das ICMPD immer wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Zu weit entfernt scheint sein Wirkungsbereich, irgendwo zwischen dem Balkan, Nordafrika und Zentralasien. Zu technokratisch ist das Vokabular. „ICMPD“ – der Name allein ist zu kompliziert, um im Gedächtnis hängen zu bleiben. Die Unscheinbarkeit ist Teil des Plans.

Fest steht aber auch, dass es eine länderübergreifende Zusammenarbeit in Migrationsfrage braucht. Lösungen, die nicht nur auf Abschottung, sondern auf Menschenwürde und Verantwortung beruhen, sind gesucht.

Tilly Sünkel von der Hilfsorganisation LeaveNoOneBehind fasste auf dem Blognetzwerk der deutschen Tageszeitung TAZ das Konzept der ICMPD so zusammen: „Die EU wischt sich seit über 10 Jahren theatralisch die Tränen aus dem Augenwinkel, während sie mit der anderen Hand den Stacheldraht an ihren Grenzen immer enger zurrt.“


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