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Prothesenhersteller kommen mit dem Liefern nicht nach

Die Produkte von Prothesenherstellern wie dem deutsche Weltmarktführer Ottobock oder seinem amerikanischen Mitbewerber Fillauer sind gefragt wie noch nie. Warum boomt das Geschäft nicht?
Kiki Camilla Manig  •  24. Mai 2025 Redakteurin    Sterne  82
Ukrainische Kriegsversehrte warten auf Prothesen. (Foto: Shutterstock)
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Der russische Angriffskrieg hat den Prothesenbedarf in der Ukraine seit 2022 hochgetrieben. Vor dem Krieg führten die Ärzte jährlich etwa 30.000 Amputationen durch. Heute hat sich diese Zahl auf rund 90.000 pro Jahr verdreifacht. Vor allem Explosionen, Schussverletzungen und andere Kampfhandlungen verursachen diese schweren Verletzungen. 

Insgesamt summiert sich die Zahl der Amputationen seit Kriegsbeginn auf ungefähr 100.000 Fälle. Boomt das Geschäft der Prothesenhersteller wie noch nie?

Der Schein trügt. Obwohl Weltmarktführer Ottobock im ersten Halbjahr 2023 seinen Umsatz um 17 Prozent steigerte, erstmalig die 1,5 Milliarden Euro Marke knackte und das erfolgreichste Jahr seiner Firmengeschichte verzeichnete, hat die gestiegene Nachfrage aus der Ukraine nicht viel mit dem wirtschaftlichen Erfolg zu tun. Entscheidend waren eine Marktneuheit im Bereich der Kniegelenke und Ottobocks Rolle als Paralympics-Ausstatter.

Kriegsbedingt zeigt sich am europäischen und globalen Prothesenmarkt kein sprunghafter Anstieg. Bei Anbietern wie Fillauer aus den USA sank der Gewinn seit Kriegsausbruch sogar. Wie ist das möglich?

Prothesenbedarf übersteigt Versorgungsmöglichkeiten

„Der Prothesenbedarf in der Ukraine ist durch den Ausbruch des Krieges zwar massiv gestiegen, aber die Versorgungsmöglichkeiten fehlen“, sagt Merle Florstedt, Unternehmenssprecherin des deutschen Unternehmens Ottobock.

Eine Prothese ist kein fertiges Produkt von der Stange. Es gibt zwar standardisierte Komponenten wie Rohre, Adapter, Kniegelenke oder Füße, doch das reicht nicht für eine schnelle Massenproduktion. „Der sogenannte Schaft bildet das Verbindungselement zwischen Körper und Prothese“, erklärt Florstedt. Spezialisten müssen ihn für jeden Patienten exakt anpassen.

Zu wenig Orthopädietechniker in der Ukraine

In der Ukraine sind viele Fachkräfte und Orthopädietechniker selbst als Soldaten in den Krieg gezogen. Das Superhumans Center in Lemberg bietet seit 2023 kostenlose Prothesenversorgung für kriegsversehrte Soldaten und Zivilisten an und kann sich dort auch auf besonders dramatische Fälle konzentrieren:

„Russen haben einen ukrainischen Soldaten gefangen genommen. Sie haben ihn brutal gefoltert und ihm gewaltsam beide Arme und Beine abgetrennt“, erzählte Andrii Vilenskyi, der medizinische Direktor des Superhumans Centers.

Nach einem Gefangenenaustausch behandelten ihn die Ärzte im Center. Dort erhielt er vier Prothesen für seine verlorenen Gliedmaßen, die ihm und seiner Familie neue Hoffnung schenkten. Auch wenn er noch nicht eigenständig leben kann, wird er laut Vilenskyi mit jedem Tag stärker: „Er ist ein großes Vorbild für uns alle.“

Ein Mitarbeiter der Rehabilitationsklinik Superhumans fertigt einen Teil einer Prothese an.Ein Mitarbeiter der Rehabilitationsklinik Superhumans: Aufwändiger Produktionsprozess mit langen Wartezeiten und hohen Kosten. (Foto: APA picturedesk)

Von der Manufaktur zum Soldaten

Mit dem Herstellungsprozess einer einsatzbereiten Prothese sind auch die Mitarbeiter der Prothesen-Manufaktur Da Vinci in Wien vertraut. Dort kommen verschiedene Herstellungsweisen zum Einsatz, etwa standardisierte mit Carbon oder moderne Silikontechnologien. „Mit unseren zehn Mitarbeitern produzieren wir rund fünfzehn Prothesen im Monat“, beschreibt Orthopädietechniker-Meister Richard Schuster. 

Für Schuster wäre Unterstützung von Künstlicher-Intelligenz denkbar. 3D-Scans der Gliedmaßen könnten dazu beitragen, die Prothesen in kürzerer Zeit passgenau zu entwerfen und somit mehr Menschen mit Prothesen zu versorgen.

In den meisten Prothesenmanufakturen schaffen die Spezialisten mit Gips die Basis. Dafür gießen sie zunächst einen Abdruck des Stumpfes mit Mullbinden. Der Gips muss anschließend wenige Tage aushärten. Danach entsteht ein Übergangsschaft, den Spezialisten so lange nachjustieren, bis er perfekt sitzt. Erst dann fertigen sie die endgültige Prothese. Dieser Prozess kann mehrere Wochen dauern.

Initiativen aus dem Ausland

Ein Großteil der Prothesen für ukrainische Kriegsopfer wird über Spenden, NGOs oder staatliche Hilfsprogramme finanziert. Im niedersächsischen Duderstadt hat Ottobock ein Schulungsprogramm ins Leben gerufen. Das Unternehmen hat seither mehr als hundert ukrainische Orthopädietechniker ausgebildet.

Hersteller können Prothesen nicht einfach länderübergreifend anfertigen. Zwar versenden sie Standardkomponenten, aber ein Orthopädietechniker muss vor Ort gemeinsam mit dem Patienten die Passform des Verbindungselements abstimmen. Dieser Prozess erfordert mehrere Termine.

Wie geht es den Betroffenen?

Sowohl Soldaten als auch Zivilisten, erleben eine Kombination aus körperlichen Schmerzen, psychischen Belastungen und sozialer Isolation. Selbst bei erhöhter Produktion werden kaum alle betroffenen Ukrainer die bestmögliche Prothese erhalten. Denn die sind teuer. Eine vollelektrische Hand kann mehr als 50.000 Euro kosten, ein Bein mehr als 70.000 Euro. Der Staat stellt maximal 200.000 Hrywnja (ca. 5.000 Euro) für die Wiederherstellung zur Verfügung, was für bionische Prothesen nicht ausreicht.

Die seelischen Wunden bleiben

Krieg verletzt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Vor allem bei verletzten Kindern und Jugendlichen ist das eine Herausforderung. Es gibt im Superhumans Center etwa zehn Kinder und Jugendliche, denen mindestens eine Gliedmaße fehlt. „Ein sechsjähriger Junge hat seinen Arm verloren und wir versuchen vor allem seine mentale Gesundheit während des Rehabilitationsprozesses zu stärken“, sagt Vilenskyi.

Das Personal ist ebenfalls psychisch belastet. Täglich sind die Mitarbeiter mit Schmerz und Leid in Kontakt. Das Management steht ihnen mit vollem Einsatz zur Seite, auch mit psychologischer Hilfe. Es sind die Patienten, die dem Team die Kraft geben, jeden Tag zumindest ein paar der vielen nötigen kleinen Wunder zu vollbringen.


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