
Zerbrochene Schnapsflaschen, Zigarettenstummel und Unrat. Ein Obdachloser verdöst seinen Rausch. Ein Spendenkeiler setzt zum Sprung an, um Gutwillige aus der Herde der Passanten zu isolieren. Ringsum verklebte Schaufenster. Der Leerstand in der Mariahilfer Straße greift um sich.
Wiens Einkaufsmeile Nummer 1 verändert sich, und das nicht zum Guten. Wo sich lange prominente Marken um jeden freiwerdenden Laden stritten, finden sich immer weniger Interessenten. Altmieter geben auf und ziehen ab. Schleichend, aber stetig machen sich Verfallserscheinungen bemerkbar. Liegt alles nur am Boom des Onlinehandels?
„Wie die meisten Probleme im Leben hat auch das Schwächeln der Mariahilfer Straße mehrere Gründe. Ein Problem lässt sich handhaben, ab fünf kommt es früher oder später zu multiplen Organversagen“, sagt der auf Retail-Flächen spezialisierte Immobilienunternehmer Jamal Al-Wazzan.
Immobilienunternehmer und Selfmade-Millionär Jamal Al-Wazzan ist einer der größten Vermieter von Geschäftslokalen in der Wiener Innenstadt. (Foto: Mayr Elke, WirtschaftsBlatt, APApicturedesk)
Amazon ist seiner Meinung nach nicht hauptverantwortlich für den scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Verfall. Immerhin verdoppelte sich in den vergangenen 30 Jahren die Wiener Bevölkerung beinahe. Es gibt also viel mehr potenzielle Kunden, was die Abwanderung ins Internet zumindest teilweise ausgleichen sollte.
Einer der Gründe, die Al-Wazzan nennt, sind die hohen Mieten. Das beklagt zum Beispiel Aleksandar Ikic, der Vertriebsmanager des Ladens Technik modern in der Mariahilfer Straße 49. Seit über zehn Jahren ist er im Werkzeugfachgeschäft angestellt. Über das Kommen und Gehen in der „Mahü“ weiß er bestens Bescheid. „Es ist einfacher zu sagen, wer hier geblieben ist, als zu sagen, wer gegangen ist“, sagt er. Von Palmers bis Kult, Mister Spex oder Martin Hos Bar Dots kann er sich an zahlreiche Nachbarn erinnern, die über die Jahre wegzogen oder in Konkurs gingen. „Gleich hier in der Nähe gab es jüngst noch einen Bitcoin-Händler, davor war darin ein Shop für Partyzubehör. Jetzt steht die Fläche seit einem Jahr leer.“
Was ihn nicht wundert. Denn für die eine Fläche, 339 Quadratmeter groß, verlangt der Vermieter auf dem Online-Marktplatz willhaben 30.000 Euro monatlich. „Wer soll sich das heute noch leisten können?“, fragt er. „Das sind die Preise aus der boomenden Zeit der Straße und die ist vorbei. Die Vermieter wollen das entweder nicht wahrhaben oder sie sind zu stolz, um nach unten zu gehen.“
Vom Katana bis zum Schraubenschlüssel: Aleksandar Ikic steht bei dem bis unter die Decke reichenden Sortiment an Werkzeugen, Messern und Ausrüstung gern mit Rat zur Seite. (Foto: Robert Gafgo)
Al-Wazzan sieht das anders. Die Durchschnittspreise für Geschäftsflächen entlang der Mariahilfer Straße blieben in den vergangenen zehn Jahren relativ unverändert zwischen 150 und 200 Euro pro Quadratmeter, argumentiert er. In Anbetracht der Inflation entspricht das einer Preissenkung von mehr als 20 Prozent.
Ein Thema, das viele Händler beobachten, ist die sinkende Kaufkraft. „Es gibt mittlerweile ganze Freundesgruppen, die Windowshopping zum Entertainment-Programm gemacht und es ausgebaut haben. Sie probieren die Sachen auch an, aber nur zum Spaß, ohne Kauf-Absicht oder -Möglichkeit“, sagt eine Verkäuferin eines Modeladens. Sinkende Kaufkraft scheint in der Mariahilfer Straße besonders ausgeprägt zu sein. Denn während Einkaufen dort einst ein Zeichen des sozialen Aufstiegs war, shoppen die betuchteren Wiener mittlerweile in der Kärntner Straße oder am Graben, wo die durchschnittlichen Quadratmeterpreise nicht stagnierten, sondern in den vergangenen Jahren zwischen 30 und 50 Prozent gestiegen sind. Der erste Bezirk weiß mit Luxusmarken zu begeistern. Hinter dieser Strahlkraft verblasst die Mariahilfer Straße.
War die schier endlose Aneinanderreihung von Geschäften einst ein Vorteil, so wird sie zunehmend zur Herausforderung. Die Länge der inneren Mariahilfer Straße von 1,8 Kilometern verteilt die Kundenfrequenz und macht die Einkaufsmeile anfällig für Lücken. Leerstände verschlechtern die Attraktivität der benachbarten Liegenschaften und vergraulen dadurch potentielle Kunden. Mindestens drei Dutzend Läden stehen derzeit leer. Potenzielle Neumieter schrecken die verklebten Schaufenster ebenso ab wie kauflustige Passanten. „Das motiviert, unschöne Lücken rasch zu schließen“, sagt Al-Wazzan. „Was auch keine Lösung ist: So kommen wenig attraktive Lückenfüller ins Spiel. Die direkte Nachbarschaft zu Platzhalter- und Billigläden verschreckt dann wieder hochwertigere Händler, und so geht es immer weiter abwärts.“
Leerstehende Verkaufsflächen wirken sich negativ auf ihr Umfeld aus und können folgenschwere Abwärtsspiralen auslösen. (Foto: Robert Gafgo)
Einige Marken ignorieren das alles und kommen trotzdem. Puma oder Biogena etwa. Nach monatelangem Leerstand siedelt sich auch die H&M-Tochter Arkett auf der Mariahilfer Straße 70 an und nur wenige Meter neben René Benkos unfertigem Kaufhaus Lamarr quartiert sich der österreichische Buchhändler Morawa ein.
Doch auch hier fehlt das Prickeln alter Tage. Die Mehrheit der Ankömmlinge hebt sich kaum vom üblichen Marken-Einheitsbrei ab. Es dominiert die gleiche Monotonie wie in den Shopping-Centern. Es fehlt an spezialisierten Einzelhändlern mit Produkten, die es nicht bereits online oder in zehn anderen Shops gibt. Für Konsumenten stellt sich die Frage: Wieso in die Mariahilfer Straße gehen?
In den vergangenen 30 Jahren verschwand der Großteil der alteingesessenen Fachhändler. Mit ihnen ging ein wesentlicher Teil der Abwechslung verloren. „Nur in der Neubaugasse oder in kleineren Nebengassen finden sich noch Fachhandelsbetriebe. Deren Fortbestand liegt wohl an günstigeren Mieten und daran, dass die Vermieter dort nahbarer sind“, so Mahü-Fachhändler Ikic. Entlang der Mariahilfer Straße können sich langfristig nur noch Millionenunternehmen halten, und hier tut sich ein weiteres Problem auf: Während Luxus in der City bleibt und Diskont am ehesten in Fachmarktzentren, kommt hierher das mittlere Preissegment, und das tut sich zunehmend schwer.
Die goldene Zeit der Fachhändler erlebte die Mariahilfer Straße in den 1980er und 90er Jahren. 1989 reichte bei Technik modern die Schlange von Kunden bis auf die Straße. Ein Anblick, den es heute nicht mehr gibt. (Foto: Technik modern)
Die Nachwehen der Finanzkrise 2009 machen sich zusätzlich bemerkbar. War es früher für Händler noch relativ einfach, mit einer guten Idee Geld für Expansion oder Filialgründungen zu erhalten, so sind Banken heute zögerlich. Stattdessen bedarf es Eigenkapital oder Investoren, um innovative Ideen umzusetzen, aber vor allem letzteres ist in Österreich rar. „Ohne Kapital mangelt es an Innovationen. Ohne Innovation entsteht kein Druck. Ohne Druck verfällt der Preis einer Immobilie und sie wird uninteressant“, diagnostiziert Al-Wazzan. Menschen mit innovativen Ideen gibt es zwar immer noch, doch siedeln sich diese bevorzugt in der Innenstadt und nicht an der Mariahilfer Straße an.
Die Bauarbeiten zur kommenden U-Bahn-Haltestelle der U5 sind für viele Geschäftsbetreiber ebenfalls ein Hindernis. Doch der unbestreitbar größte Makel der Mariahilfer Straße ist der Rohbau von René Benkos unvollendetem Luxuskaufhaus Lamarr. War es vor wenigen Jahren noch Hoffnungsträger und planmäßiges Kronjuwel der Stadt, so hinterließ es seit der Signa-Pleite ein klaffendes Loch. „Das Lamarr gehört den Bürgern von Wien, es soll der Stolz der Stadt sein“, versprach 2022 André Weber, der damalige CEO der KaDeWe-Gruppe. International führende Marken wie Louis Vuitton, Gucci, Prada oder Bottega Veneta sollten zahlungskräftiges Publikum in die Mariahilfer Straße locken, wovon auch die umliegenden Händler profitiert hätten.
Für rund 100 Millionen Euro erwarb die Stumpf-Gruppe das Lamarr 2024. Seither tat sich nicht viel. Die Bauruine thront nach wie vor über dem Boulevard in Nöten. Lediglich die Bauzäune änderten sich. Sollte das Prestigeprojekt auf acht Stockwerken einst rund 20.000 Quadratmeter Verkaufsfläche bieten, so steht jetzt ein Teilabriss samt Umwidmung im Raum. Wo Gucci und Prada geplant waren, könnten bald schon Wohnungen entstehen.
Heute ist der Lamarr-Rohbau ein stilles Mahnmal für den Hochmut vor dem Fall. (Foto: Robert Gafgo)
Seit vergangenem Jahr berichten Anrainer von einer Zunahme der Obdachlosen entlang der Mariahilfer Straße. Was auch zu mehr Beschwerden und Polizeipräsenz führte, denn Kunden steigen nicht gerne über Alkoholleichen, wenn sie sich etwas Schönes gönnen wollen. Besonders die öffentlichen Sitzflächen vor der Urban Outfitters-Filiale sind ein beliebter Treffpunkt. Die Bewohner der Straße schätzen die Einkaufsmeile als sicheren Ort zum Übernachten. Passanten spendieren Lebensmittel oder Kleingeld. Nicht zuletzt befindet sich Wiens bekannteste Obdachlosenunterkunft die Gruft in direkter Nachbarschaft in der Barnabitengasse.
Der Umbau zur Begegnungszone vom Gürtel bis zur Andreasgasse 2015 erhöhte die Attraktivität der Einkaufsstraße zudem nicht nur für Bummler, sondern eben auch für Obdachlose. Unter ihnen sind viele Ungarn, seitdem Viktor Orbáns autoritäre Regierung 2018 Obdachlosigkeit zur Straftat in Ungarn erklärte.
Zumindest Technik modern-Händler Ikic kann dem Anstieg der Obdachlosen etwas Positives abgewinnen. „Ich sehe manchmal die Polizei, wenn sie die Betrunkenen vertreibt, aber wirkliche Probleme hätte ich wegen der Obdachlosen nicht bemerkt. Im Gegenteil, früher hatten wir weit mehr Drogensüchtige. Die wollten öfter bei uns Messer kaufen. Wenn Obdachlose bei uns einkaufen, dann sind es die Straßenmusiker.“
Was ist zu tun, um der Mariahilfer Straße wieder frisches Leben einzuhauchen? Für Selfmade-Millionär Al-Wazzan stehen die Mängel fest. „Es fehlt an Geld, Innovation und Arbeitswillen.“ Er nimmt vor allem die Jugend in die Pflicht. „Viele junge Menschen setzen heute auf Selbstverwirklichung statt Leistung“, sagt Al-Wazzan. Ein bequemes Leben sei auch ohne großen Einsatz möglich, sei es durch staatliche Unterstützung oder familiäres Erbe. Wer im Bewerbungsgespräch gleich nach der Work-Life-Balance fragt, zeige für ihn oft fehlenden Ehrgeiz. „Wenn alle nur durchs Leben gleiten wollen, ohne etwas beizutragen, bleibt der Wirtschaftsmotor irgendwann stehen, und der stottert ohnehin schon.“ In Straßen wie der Mariahilfer Straße zeige sich das besonders drastisch.
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