
Wie sehen Sie die Identität osteuropäischer Staaten heute, mehr als 35 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs?
Ich kann vor allem für Ostmitteleuropa sprechen, insbesondere über die Slowakei und zum Teil auch über Tschechien. Dort ist deutlich zu erkennen, dass der Westen beziehungsweise die EU für viele nicht mehr das perfekte Vorbild ist. Mittlerweile betrachten viele Nationen den Westen nüchterner als Anfang der 1990er Jahre. Die Suche nach einer eigenen Position, und damit auch nach einer eigenen Identität, hat in vielen dieser Staaten erst allmählich begonnen. Heute hat jeder der einstigen Satellitenstaaten der Sowjetunion seine eigene Perspektive, aber Anfang der 90er herrschte in dem, was sie bewegte, durchaus Einigkeit. Die westlichen Nationen waren etwas, was nachzuahmen war.
Was genau galt es nachzuahmen?
Das äußerte sich in drei Aspekten. Vor allem hat ein starker Antikommunismus diese Zeit bestimmt. In der Slowakei und Ungarn, aber auch in anderen Regionen änderte sich das inzwischen. Die Wahl von Petr Pavel, einem Politiker mit kommunistischer Vergangenheit zum Präsidenten in Tschechien im Jahr 2023, eines der am stärksten antikommunistisch geprägten Länder der Region, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich auf gesellschaftlicher Ebene einige Veränderungen vollziehen. Grund dafür sind besonders die verheerenden Folgen der Transformation vom sozialistischen zum neoliberalen System. Viele einfache Menschen empfinden die 1980er Jahre als besser, da der Staat damals mehr Stabilität bot. Die Frustration über die neoliberale Transformation nährt eine „rote Nostalgie“.
Was ist der zweite Aspekt?
Der westliche Neoliberalismus war gesellschaftlich ebenso breit akzeptiert, selbst unter vielen Intellektuellen. Doch die Finanzkrise 2008 zerstörte dieses Vertrauen. Seitdem wächst die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Konzept. Dennoch ist die Zeit großer Experimente vorbei. Der globale Kapitalismus erlaubt kleineren Staaten kaum, alternative Systeme zu entwickeln.
Und der Dritte?
Drittens hat sich auch die prowestliche Orientierung gewandelt. Prowestlich, das bedeutet zunächst zurück nach Europa und ab in die Europäische Union. Ursprünglich war aber die Orientierung an den USA entscheidender, zumindest was die Wirtschaft und die Kultur betrifft. Der Unterschied zwischen den neoliberalen Vereinigten Staaten und dem sozialstaatlichen Westeuropa war damals für viele noch nicht so klar ersichtlich. Das war für die Menschen des Ostens weitestgehend dasselbe. Die Devise war „Zurück in den Westen“, jedoch sorgten US-amerikanische Auslandsabenteuer in diesem Aspekt schnell für Ernüchterung.
Wie taten sie das genau?
Die US-amerikanischen Interventionen im Irak und Afghanistan waren ausschlaggebend. Besonders in der Slowakei haben aber schon die Bombardierungen im Jugoslawienkrieg eine Skepsis verbreitet. Die Slowakei hat eine enge Beziehung zu Serbien, da dort eine slowakische Minderheit lebt. Schon damals stellte sich die Frage, ob wir Teil dieses US-amerikanischen Abenteuers sein wollen. Aber es gibt auch aktuelle Desillusionierungen.
Zum Beispiel?
Die Entscheidung von Angela Merkel, 2015 im Rahmen der Flüchtlingskrise eine offene Haltung einzunehmen, stieß in Teilen Osteuropas auf Unverständnis. Länder wie Polen oder die Slowakei haben den westlichen Optimismus der sogenannten Willkommenskultur nicht geteilt. In der Bevölkerung überwog die Sorge, dass die Aufnahme Geflüchteter den ethnischen und religiösen Charakter ihrer Nationalstaaten verändern könnte oder Sicherheitsprobleme entstehen.
Denken Sie, wuchs durch diese Ressentiments die prorussische Haltung innerhalb der Staaten des ehemaligen Ostblocks?
Nicht zwingend, es gibt hierfür bereits historische Ursachen. Als Slowake kann ich sagen, dass wir als relativ armes Binnenland für lange Zeit in starker Abhängigkeit von russischen Ressourcen wie Gas, Öl und Uran waren und immer noch sind. Das prägt. Genauso prägt die Erinnerung an die Rote Armee, die das Land 1945 von den Nazis befreite. In der Slowakei ist die rote Nostalgie besonders stark ausgeprägt. Nicht zuletzt, da wir in den 70er und 80er Jahren stark von der Föderalisierung der Tschechoslowakei profitierten, die seit dem 1. Jänner 1969 in Kraft war.
Wie sah diese Zeit aus?
Damals verzeichnete die Slowakei ein deutliches Wirtschaftswachstum und einen Anstieg der Investitionen. Dadurch nahmen auch die finanziellen Transfers aus dem wohlhabenderen tschechischen in den ärmeren slowakischen Landesteil zu. Gleichzeitig ließ der politische Druck auf die Bevölkerung spürbar nach. Die verbreitete Nostalgie und die oft gezogene Schlussfolgerung, die Sowjetunion beziehungsweise „die Russen“ seien der Garant dieser „guten Zeiten“ gewesen, ergibt sich aus verschiedenen Faktoren dieser Zeit. Es herrschte eine relative soziale Gleichheit, Stabilität auf politischer und gesellschaftlicher Ebene und der wirtschaftliche Aufschwung brachte vor allem beim Wohnraum und bei Lebensmitteln leistbare Preise.
Wie sieht die osteuropäische Identitätssuche jetzt, nach den Jahren der Ernüchterung genau aus?
Derzeit gibt es in der Slowakei, wie in vielen anderen Nationen, relativ große Spannungen zwischen den drei Hauptideologien der Moderne. Zwar spielt die Frage zwischen Ost und West immer noch eine große Rolle, doch ist es vor allem ein Konflikt zwischen dem Liberalismus, dem Konservatismus und dem Sozialismus.
Inwiefern äußert sich dieser Konflikt?
Zum Beispiel dominierten in der Slowakei in ihrer modernen Geschichte eher radikale Versionen dieser drei Ideologien. Zunächst kam ein Konservatismus mit faschistischer Prägung in der ersten Slowakischen Republik von 1939 bis 1945, gefolgt von einem autoritären Kommunismus von 1948 bis 1989 und einem mehr oder weniger unregulierten Kapitalismus nach der Wende. Bei allen drei fehlte der gemäßigte Zugang und die Rücksicht auf Andersdenkende. Wie der tschechische Philosoph Jan Patočka mal in einem anderen Kontext sagte, geht es um die „Suche nach Moderatheit“, eine Suche, die derzeit nicht nur in der Slowakei, sondern auch in vielen westlichen Gesellschaften an Willen zu verlieren scheint.
Was ist die Konsequenz aus diesem Mangel an Moderatheit?
Momentan scheinen konservative, gemeinschaftsorientierte und sogar völkische Strömungen in vielen Staaten stark anzuwachsen. Sie beginnen, die Sichtweise auf die Welt zu dominieren, wie in Frankreich, Ostdeutschland oder in den USA. Auch Robert Fico, der Ministerpräsident der Slowakei, einst ein Kommunist und nun der Sozialdemokratie zugehörig, tendiert momentan stark in diese Richtung. Neben einer Versöhnung zwischen Ost und West benötigen wir vor allem eine Versöhnung, oder mindestens einen modus vivendi, also eine Koexistenz trotz Differenzen zwischen den drei Hauptideologien unserer Zeit. Das gilt nicht nur für Ostmitteleuropa.
Woher kommen diese konservativen Tendenzen?
Zunächst sei gesagt, dass Länder wie Polen oder die Slowakei traditionell sehr konservativ sind. All jene Unsicherheiten, die die Globalisierung mit sich brachte, haben diese Tendenz nur verstärkt. Verbunden mit der roten Nostalgie sehnen sich viele nach der alten nationalstaatlichen Stabilität. Gewiss, es gab weniger Flexibilität, aber es war eine Zeit, in der die Menschen nicht zwingend Englisch oder Deutsch lernen mussten und sie ihren Arbeitsplatz nicht fünf Mal im Leben wechseln mussten. Das sind viele Motive, die auch in Westeuropa auftreten, wobei es einen Unterschied gibt.
Und der wäre?
Aufgrund der enttäuschenden Transformationszeit sind die liberaleren und sozialistischen beziehungsweise sozialdemokratischen Teile osteuropäischer Gesellschaften noch stärker als im Rest der Welt geschwächt. Auch deshalb punkten nationalkonservative Kräfte, da sie sich als Retter gegen die Globalisierung positionieren, was in vielen Punkten der USA ähnelt. Dort ist der Sozialstaat in einer ähnlichen schwachen Position, wie in den meisten postsozialistischen Ländern. Währenddessen die sogenannten „progressiven Kräfte“ oft eine undialogische Radikalität an den Tag legen. Nichtsdestotrotz ist die Lage in Ostmitteleuropa dennoch nicht so dramatisch, wie sie westliche Medien gerne darstellen.
Von wo kommt dieses Unverständnis des Westens Ihrer Meinung nach?
Womöglich denken die Menschen im Westen wirklich, dass sie den Weg der Geschichte bereits kennen und die Osteuropäer ihn noch lernen müssen. Deswegen gab es auch wenig Interesse am Osten und seinen Menschen nach der Wende. Deshalb fehlt wohl die Akzeptanz, dass in einigen Ländern andere Werte, Sitten und Gewohnheiten existieren. Natürlich müssen wir auch den Osten kritisch hinterfragen.
In welcher Hinsicht?
In Osteuropa haben viele Menschen und auch Intellektuelle akzeptiert, dass sie nichts Eigenes produzieren und lediglich nachahmen müssen. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben die Osteuropäer in Literatur und Kultur dem Westen wenig Gründe gegeben, sich für sie zu interessieren. Es ist nicht vergleichbar mit dem Prag der 1960er Jahre, als Schriftsteller wie Milan Kundera, später weltweit bekannt durch Bücher wie Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, das Interesse der Welt erweckten.
Was bewirkt diesen Unwillen, etwas zu zeigen? Wo bleibt der Milan Kundera der Gegenwart?
Der materialistische Aspekt spielt hier sicherlich eine große Rolle. Es herrscht eine Talentabwanderung vom Osten in den Westen. In den 90ern und Anfang der 2000er war sie besonders stark. Einige Osteuropäer gelangten in gute Jobs und hohe Positionen. Viele gingen jedoch in den Westen, weil sie dort auch in schlechter bezahlten Jobs besser verdienen. Eine ähnliche Abwanderung geschieht vom öffentlichen in den privaten Sektor. Ich denke, es gibt jenseits des Materialismus noch einen Grund.
Und zwar?
Große Namen entstehen oft, wenn große Impulse vorhanden sind. Wenn jemand hunderte Panzer wie damals im August 1968 in Prag sieht, dann bedarf es einer großen künstlerischen Reflexion. In Kunderas Roman Unsterblichkeit können wir seine spekulative Konstruktion lesen, dass Robespierre, Napoleon, Beethoven, Stalin und Picasso irgendwie zusammengehören, mit ihrem Streben nach Originalität und dem Sehnen nach Veränderung. Eine der Figuren aus dem Roman glaubt, der Grund, dass es in Europa seit fünfzig Jahren keinen Krieg mehr gab, hängt auf mysteriöse Weise damit zusammen, dass es hier seit fünfzig Jahren keinen Picasso mehr gegeben hat. Ich will aber hier nicht die komplizierte Frage stellen, ob große Persönlichkeiten große Veränderungen verursachen oder ob große Veränderungen große Persönlichkeiten zur Folge haben.
Wie sieht es dagegen heute aus?
Die heutigen Entwicklung vollziehen sich irgendwie so steril, dass es nicht genügend Impulse gibt, die die Menschen zu ähnlichen künstlerischen Mühen bewegen. Womöglich ist es auch eine Frage des Glücks, falls wir so ein Wort in diesem Zusammenhang verwenden dürfen. Die ganze Welt interessierte sich damals für Prag. Für Kundera, aber auch für andere wie Miloš Forman oder Václav Havel war es die richtige Zeit und der richtige Ort.
Was sagen Sie dazu, dass Osteuropa derzeit ein besseres Wirtschaftswachstum erlebt als Westeuropa?
Das liegt wohl auch daran, dass der Preis der Arbeit in Osteuropa immer noch günstiger ist. Aus globaler Sicht ist es für Volkswagen etwa preiswerter, ein Werk in Deutschland als in Ostmitteleuropa zu schließen. An der Arbeitsethik könnte es auch liegen. Ich habe den Eindruck, dass die Generation Z in Ländern wie Polen oder der Slowakei eher darauf hinarbeitet, sich etwas aufzubauen. Viele sehnen sich noch danach, eine Familie zu gründen und etwas für die eigenen Kinder und die Zukunft zu schaffen. Im Westen, wenn ich es etwas vereinfachen darf, sind viele der Jungen bereits mit einem Hund oder einer Katze zufrieden. Schlussendlich ist aber jedes Land für sich ein eigener Fall. Die Mode von Hunden und Katzen statt Kindern breitet sich auch in Ostmitteleuropa aus. Eine gute westeuropäische Kollegin von mir fasste die Unterschiede zwischen „Ost und West“ in Europa einmal in einer interessanten Beobachtung zusammen.
Wie genau?
Sie und andere ihrer Kollegen hatten den Eindruck, dass Studierende aus Osteuropa viel eher bereit seien, sich anzustrengen und härter zu arbeiten, als heimische Studierende. Es scheint eine andere Arbeitsethik zu herrschen. Sie sieht die Zukunft des „Westens“ nicht besonders rosig, da seine überbehüteten und verwöhnten Kinder nicht verstehen, dass sie sich nicht immer von der Arbeit befreien können. Das dürfte eher die Schuld der Eltern als die der Kinder sein. Die Folgen davon werden bald sichtbar sein, befürchtet sie. Vielleicht sind es sie bereits. Nehmen Sie diese letzte Bemerkung aber eher als Impuls für weitere Untersuchungen, um eine falsche Generalisierung zu vermeiden.
Was könnte zu einer besseren Verständigung unter den Menschen Ost- und Westeuropas beitragen?
Eine gute Frage. Es bräuchte vielleicht eigene Stiftungen, die sich gezielt um die Übersetzung von Büchern und Filmen kümmern. Zum Beispiel: Warum nicht jedes Jahr zwei bis drei slowakische Bücher ins Deutsche übersetzen? Und umgekehrt: zwei bis drei österreichische Bücher ins Slowakische. Ein solcher Austausch, idealerweise im Bereich der Philosophie, Kulturwissenschaften und andere Sozialwissenschaften, sollte auch zwischen anderen Staaten stattfinden. Natürlich gibt es bereits solche Übersetzungen, Stiftungen und ähnliches, aber sie geschehen nicht systematisch und nicht regelmäßig genug. Ebenso müsste die Europäische Union ihre Pluralität wiederfinden.
Wie würde das aussehen?
Vielleicht könnten wir uns ein Beispiel an den Vereinigten Staaten nehmen. Wenn dort progressive Bundesstaaten wie New York und Kalifornien gemeinsam mit konservativen Staaten wie Texas, Oklahoma oder Florida existieren können, wieso sollte das nicht auch bei uns funktionieren? Wir müssen einen Weg finden, damit sich die unterschiedlichen europäischen Entitäten nicht entfremden. Was spricht dagegen, wenn die Niederlande das Kalifornien und Polen das Texas Europas werden? Wir sollten immer Brücken bauen, aber zugleich sollten wir die Punkte erkennen, wo sich gegenwärtig keine Einigung erzielen lässt.
Zum Beispiel?
Viele Länder im Osten der Europäischen Union sind derzeit nicht bereit, mehr Migranten aufzunehmen. Ab einem bestimmten Punkt muss uns klar sein, dass wir uns in dieser Debatte nicht weiterbewegen. In zehn Jahren ist die demografische Lage, trotz dem bereits erwähnten Willen Kinder zu kriegen, in manchen dieser Staaten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit so schlecht, dass sie Migranten eher willkommen heißen. Hin und wieder ist es vielleicht nur eine Frage des Wartens. Es ist jedoch ebenso möglich, dass diese Länder sich entscheiden, den „japanischen Weg“ zu gehen und verstärkt auf Homogenität als auf Immigration wert legen. Ich halte das aber für unwahrscheinlich. Wenn ich durch die Straßen von Bratislava oder Prag gehe, ist dort bereits vieles sehr kosmopolitisch. Übrigens, Studenten kann ich ebenso einen guten Rat mit auf den Weg geben.
Der wäre?
Ich war für viele Jahre Koordinator des Studentenaustauschprogramms Erasmus. Wien ist bei deutschen Studenten besonders beliebt. Dabei stellt sich die Frage, ob das dem ursprünglichen Gedanken des Erasmus-Programms entspricht. Es ist zwar ein anderes Land, aber kulturell und sprachlich ist es dennoch ein vertrautes Umfeld. Ähnlich ist es bei österreichischen Studierenden, die gerne nach Berlin oder Frankfurt gehen. Ich empfehle stattdessen, andere Länder zu wählen, um die Möglichkeit, andere Kulturen kennenzulernen, voll auszunutzen.
Danke für das Gespräch.
Verfasse auch du einen Beitrag auf campus a.