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Sinkende Geburtenzahlen könnten die Welt retten

Kinderwunsch und Zeugungsfähigkeit gehen weltweit zurück. Sterben wir aus oder steckt dahinter ein genialer Plan der Evolution?
Lara Hassler  •  09 Dezember 2024 Redakteur      2
Seltene Exemplare: Es werden immer weniger Kinder geboren
Shutterstock

In den meisten Industriestaaten sinken die Geburtenrate seit langem. Auch in Südostasien und Lateinamerika kommen Jahr für Jahr weniger Kinder zur Welt. In Afrika steht diese Entwicklung ebenfalls bevor. Hauptgrund dafür ist der wachsenden Wohlstand. Wer besser lebt, will weniger Kinder.

 

Biologische Faktoren verstärken die sozialen. Auch die männliche Fruchtbarkeit sinkt. Die Zahl der Spermien in der Samenflüssigkeit hat sich laut einer Studie des israelischen Forschers Hagai Levine aus dem Jahr 2022 in den vergangenen 50 Jahren halbiert. Auch dieser Trend hält an. Was bedeutet das für die Zukunft der Menschheit? 

Immer weniger Menschen

Österreich gehört zu den Ländern mit dem stärksten Geburtenrückgang. Allein von 2016 bis 2023 sank die Zahl der Kinder pro Frau von durchschnittlich 1,53 auf 1,32. Rund zwei Kinder müssten es sein, um die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung stabil zu halten. 2023 war die österreichische Geburtenrate ebenfalls stark rückläufig. In vielen anderen modernen Industrienationen läuft es seit der Jahrtausendwende kaum besser.

Das skandinavische Wunder

Einziger europäischer Ausreißer nach oben sind die skandinavischen Länder. Ihre Bevölkerung bleibt stabil. Schweden oder etwa Dänemark geben zwar teilweise weniger für Familienpolitik aus als Österreich, doch sie ist fortschrittlicher. 480 Tage bezahlte Elternzeit stehen schwedischen Müttern und Vätern zur Verfügung. Zudem ist ihnen ein Kindergartenplatz ab dem ersten Geburtstag ihres Kindes sicher und der Staat nimmt Väter stärker in die Pflicht. Kleine Kinder stehen den Karrieren der Eltern somit nicht im Weg. „In einigen skandinavischen Ländern hat sich die Geburtenrate in den vergangenen Jahren deshalb stabilisiert“, sagt Martin Fieder, Demograf am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien. 

Doktor Johannes Huber darüber, warum der Spermienrückgang nicht zum Aussterben unserer Spezies führt.

 

Südamerika und Südostasien, vor einigen Jahren noch Hoffnungsträger in Sachen Nachwuchs, haben diesen Trend übernommen. Ihre Geburtenraten liegen im Schnitt auch nur noch bei 1,5 Kindern pro Frau. Uruguay ist in diesem Ranking mit 1,3 Kindern pro Frau noch schlechter als Österreich. Ähnlich verhält es sich in Thailand, wo die Geburtenrate 2023 den tiefsten Stand seit mehr als 70 Jahren erreicht hat. Doch Skandinavien wird die Welt nicht retten.

Negativ-Rekord in Singapur

Den internationalen Nachwuchs-Negativ-Rekord hält Singapur. Dort fiel die Geburtenrate zuletzt erstmals unter eins. Heiraten ist in dem Land zwischen dem Indischen Ozean und dem Südchinesischen Meer aus der Mode gekommen. Die jungen Menschen sind zu beschäftigt dafür. Auf den Männern lastet der soziale Druck, vor der Familiengründung Karriere zu machen. Wenn sie so weit sind, stellen sie fest, dass die Frauen nicht mehr heiraten müssen, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen. In Singapur besuchen bereits mehr Frauen als Männer die Unis.

In den kommenden 60 Jahren lässt nur noch der globale Süden, also die Ländergruppe der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer, die Weltbevölkerung weiter wachsen. Doch auch dort steigt der Wohlstand und die sich verändernde Alterspyramide tut ihr Übriges. 2085 wird die Zahl der lebenden Menschen ihren Spitzenwert von 10,4 Milliarden erreichen, und von da an gehts bergab.  

Das Spermiendilemma

Die sinkende Fruchtbarkeit der Männer könnte die Sache beschleunigen. Die Wissenschaft schlägt mittlerweile eine Reihe von Gründen dafür vor. Ungesunde Ernährung, wenig Bewegung, Rauchen und Stress gehören laut dem israelischen Forscher Hagai Levine dazu. Pestizide aus der Landwirtschaft und hormonell wirkende Substanzen in Kunststoffen gelten ebenfalls als Spermienkiller. Levine erwartet einen jährlichen Rückgang der Spermien in der Samenflüssigkeit um 1,1 Prozent. Das würde die natürliche Fortpflanzung weltweit in etwa 100 Jahren beenden.

In Europa ist die Lage noch trister. Der Rückgang erfolgt im Vergleich zum internationalen Schnitt hier doppelt so schnell. Die Fruchtbarkeit in Europa wäre damit bereits 2069 am Ende. „Wir haben es mit einem ernsten Problem zu tun. Es könnte das Überleben der Menschheit bedrohen“, sagt Levine. Hat er recht?

Eine einzige Spermie reicht

Andere Wissenschaftler sind optimistischer als Levine. Dazu zählen die Reproduktionsmediziner Johannes Huber und Marlene Hager von der MedUni Wien. Als kritische Zahl für die Fruchtbarkeit, die auch Levines Berechnungen zugrunde liegt, gelten gemeinhin 15 Millionen Spermien pro Milliliter. Doch Huber sieht das anders. „Eine Befruchtung funktioniert mit 8 Millionen Spermien auch noch.” In Notfällen seien Spermieninjektion möglich. Huber: “Im Grunde reicht für eine erfolgreiche Befruchtung eine einzige Spermie.”

Mit Spermieninjektion führen Ärzte tatsächlich schon heute mit hoher Erfolgsquote einzelne Spermien in Eizellen ein. Sollte ein Mangel an Eizellen bestehen, dürfte das auch bald kein Problem mehr sein. Andere Körperzellen werden sich bald in Eizellen umwandeln lassen. „Die Wissenschaft ist da fast schon beängstigend schnell unterwegs“, sagt Huber. 

Die Selbstregulierung der Weltbevölkerung 

Der Rückgang der Gesamtbevölkerung ist für die Evolution kein Nachteil, glauben Optimisten wie Huber, vielmehr sei sie zum Teil von ihr gewollt und gemacht. Huber geht, vereinfacht gesagt, davon aus, dass die Evolution unaufhörlich die Umwelt abtastet und die Entwicklung des Menschen an die Informationen, die sie dabei bekommt, anpasst. „Sie bemerkt, dass Ressourcen und Nahrungsmittel angesichts der Bevölkerungsexplosion knapp werden”, sagt er. “Deshalb sorgt sie für eine kleinere aber dafür stabilere Weltbevölkerung.” Was auch gut fürs Klima wäre. Die CO₂-Belastung pro Mensch ist eine entscheidende Größe in allen Rechnungen zur Erderwärmung.

Weiterleben, aber anders

Das Fazit der aktuellen Forschung: Ein Ende der Menschheit ist nicht in Sicht. Technologie, Familienpolitik und das stärkste Motiv der Evolution, die Arterhaltung, werden uns retten. Die gute Nachricht dabei: Der Druck auf Ökologie und Ökonomie sinkt, denn mit halber Besetzung sind Ernährungssicherheit und Klimaziele leichter zu erreichen. Unser Aussterben schein vorerst aufgeschoben zu sein. Wenn hinter dem Bevölkerungsrückgang tatsächlich ein Plan der Evolution steht, könnte er genial sein.

 

 

 

 

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