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Psychische Gesundheit auf TikTok: Trend mit Nebenwirkungen

Millionenfach konsumieren junge Menschen auf TikTok Videos über ADHS, Depression und andere psychische Erkrankungen. Zwischen Selbstdiagnosen, Lifestyle-Tipps und ästhetischer Inszenierung verschwimmt dabei oft die Grenze zwischen Aufklärung und Verharmlosung. Expert:innen warnen vor Falschinformationen und einer gefährlichen Romantisierung, die das Leiden Betroffener unterschätzt – und psychische Störungen zum profitablen Geschäftsmodell macht.
Sophie Ströbitzer  •  2. April 2025 Volontärin    Sterne  22
Videos zu psychischer Gesundheit erreichen auf TikTok Millionen junge Menschen — nicht immer sind sie inhaltlich korrekt. (Foto: Shutterstock)
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I have mastered ADHD. I am literally so good at it. I am gonna teach you six ways to master it and appreciate it as the gift that it is, because it is a gift. (Ich habe ADHS gemeistert. Ich bin so gut darin. Ich zeige euch sechs Wege, es zu meistern und als das Geschenk zu schätzen, das es ist, denn es ist ein Geschenk.)

Solche Videos, wie jenes von Amanda Rollins (326.000 Likes), fluten täglich die TikTok-Feeds junger Nutzer:innen. Shan, eine andere Nutzerin, präsentiert in einem Video mit 1,2 Millionen Likes ästhetisch ihre Lifehacks für ADHS. Sie verteilt überall im Haus Ladekabel und kauft Saftpäckchen in Massen für den schnellen Vitaminkick. Ein weiterer Nutzer spricht über die Unterschiede zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen. Die Gehirne der beiden Gruppen funktionieren laut ihm genau gegenteilig. 

Das sind nur einige wenige Inhalte, die der TikTok-Algorithmus unter den Hashtags #adhs oder #adhd (auf Englisch) liefert. Neben skurrilen Tipps, Diagnoseanleitungen und Selbsttests scheinen Nutzer:innen auch Identität und Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu finden. Eine aktuelle Studie der University of British Columbia zeigt aber, was man auch erhält: Falschinformationen. 52 Prozent der TikTok-Inhalte zu ADHS enthalten irreführende Informationen. Zudem überschätzen junge Erwachsene die Verbreitung der Störung massiv. Sie glauben, dass etwa 33 Prozent der Bevölkerung betroffen sind, tatsächlich liegt die Rate bei Erwachsenen bei zwei bis drei Prozent. 

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Obwohl Plattformen wie TikTok zur Aufklärung und Entstigmatisierung psychischer Krankheiten beitragen können, lassen sich negative Effekte nicht leugnen. Übermäßige Selbstdiagnosen und Falschinformationen sind nur einige der problematischen Folgen. Warum funktionieren Inhalte zu psychischen Störungen auf TikTok so gut, und welche Gefahren bringt es mit sich, wenn Diagnosen zu Trends werden?  

Psychische Erkrankungen im Wandel öffentlicher Wahrnehmung 

Die psychische Störung ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) hängt mit einem gestörten Dopamin-Stoffwechsel im Gehirn zusammen und kann vererbt werden. Die Hauptsymptome sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, die sich unterschiedlich stark auf den Alltag der Betroffenen auswirken können. 

Psychische Erkrankungen wie ADHS wurden lange Zeit stigmatisiert und nicht ernst genommen. Noch vor zehn Jahren war es für manche Betroffene undenkbar, darüber zu sprechen. Die Corona-Pandemie hat die gesellschaftliche Offenheit gegenüber mentaler Gesundheit nochmals gesteigert. Therapieplätze werden häufiger in Anspruch genommen und der öffentliche Dialog stärker geführt. Besonders für junge Menschen sind soziale Medien wie TikTok Plattformen zum Austausch über ihre Psyche. Unter Hashtags wie #mentalhealth (mentale Gesundheit) teilen Millionen Nutzer:innen ihre Erfahrungen, geben präventive Tipps und bilden unterstützende Communities – und das, gratis und barrierefrei. Das sei ein wichtiger Schritt zur Aufklärung, betont beispielsweise die Schweizer Trendforscherin Angel Schmocker, die zum Umgang mit mentaler Gesundheit auf sozialen Medien forscht. 

Barbara Haid, Psychotherapeutin und Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie, sieht ebenfalls positive Aspekte: „Generell hat das Thema psychische Gesundheit mehr Raum in der Öffentlichkeit bekommen. Wir haben verstanden, dass es neben körperlichen auch psychische Leidenszustände gibt, für die man sich nicht schämen muss.“ Gleichzeitig beobachtet sie: Immer mehr junge Menschen kommen mit Selbstdiagnosen zu ihr. Patient:innen seien heute viel besser informiert als noch vor zehn Jahren. Oft würden dadurch aber normale Verhaltensweisen zu schnell pathologisiert. „Es gibt einfach Menschen, die sich länger konzentrieren können und Menschen, die schnell abschweifen. Das ist nicht unbedingt gleich ein Symptom oder eine Krankheit.”, so Haid. 

Junge mit SmartphoneDie Romantisierung von psychischen Krankheiten auf sozialen Medien kann dazu führen, dass sich Betroffene unter Druck gesetzt fühlen (Foto:Unsplash).

Zwischen Romantisierung und Vermarktung 

Ein zentrales Problem sei zudem die Romantisierung von Krankheiten wie Depression, Zwangsneurosen oder ADHS, was dazu führt, dass ernsthafte Erkrankungen nicht angemessen wahrgenommen werden. „The reality of Depression” (Die Realität von Depression) betitelt beispielsweise ein Video von TikTok-Nutzerin Zanina. Die junge Frau liegt geschminkt in einem schönen, makellos-aufgeräumten Zimmer auf einem gemachten Bett. Im Hintergrund läuft das Lied „Another Love”. Sie sieht traurig aus – 400.000 Likes. Barbara Haid warnt:

Echte Depression ist tiefschwarz. Da ist nichts schön. TikTok-Videos , in denen junge, weiße, bildhübsche Frauen in schönen Räumen von ihrer Depression erzählen, spiegeln in keinster Weise eine schwere depressive Episode wider.

Idealisierte und inszenierte Darstellungen können bei Betroffenen den Eindruck erwecken, dass sie selbst in ihrer Krankheit versagen, wenn ihr Erleben nicht dem gezeigten Bild entspricht, so Haid.  Auch die Vermarktung psychischer Erkrankungen komme ihr immer wieder unter. Die deutsche Moderatorin Cathy Hummels etwa, thematisiert auf sozialen Medien häufig ihre Depression. Als „Gegenmittel“ empfiehlt sie ihren Follower:innen ein „Mental Health Retreat“ (Psychische Gesundheits-Kur) in Griechenland mit Freund:innen und ganz viel Sonne. Die Veranstalterin? Hummels selbst. Damit ist sie nicht die einzige, die ihre psychische Krankheit zur Content-Strategie und damit zum Geschäftsmodell macht.  

Das Angebot der Mental-Health Influencer:innen reicht von Massagebällen gegen Depression, einem stylischen Etikettendrucker gegen Zwangsneurose bis zum Konzentrationsgel gegen ADHS. Link in bio, versteht sich. Hinter vermeintlich freundschaftlichen Profilen stecken oft harte Geschäftsmodelle, so Haid. Dass wir den Gesichtern auf unserem Screen trotz fehlender Fachkompetenz glauben, wenn sie uns „drei Lifehacks um dein ADHS in den Griff zu bekommen” versprechen, sei aber nachvollziehbar, so die Psychotherapeutin. Sie bieten uns schnelle, einfache Lösungen und bewahren uns vor einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit dem Problem. „Verantwortungsvolle Influencer:innen hingegen schaffen zwar Awareness (Bewusstsein), aber setzen ganz klare Grenzen und fordern auf, sich professionelle Hilfe zu holen.” 

Warum ADHS und Depressionen auf TikTok „trenden” 

Nicht alle psychischen Erkrankungen erhalten die gleiche Aufmerksamkeit auf TikTok. Romantisiert werden vor allem Krankheiten, die sich ästhetisch inszenieren lassen, schreibt Soziologin Laura Wiesböck in ihrem Buch „Digitale Diagnosen”. Schizophrenie oder Narzissmus hingegen werden selten thematisiert und schon gar nicht romantisiert, so die Forscherin. Die Krankheiten, die verherrlicht werden, passen außerdem in unsere Leistungsgesellschaft. Wenn wir uns selbst Depressionen und ADHS diagnostizieren, können wir uns erklären, warum uns unser 60-Stunden-Job erschöpft oder wir es diese Woche nicht zum Sport geschafft haben. Wir vermindern den an uns gestellten Leistungsdruck und kommen ohne Systemkritik oder ein tatsächliches Überdenken unseres Lebensmodells aus.

Psychologische Inhalte auf TikTok bieten jungen Nutzer:innen neben Erklärungsmustern für vermeintliche Schwächen vor allem Identität und Zugehörigkeit. Das zeige sich darin, dass viele Jugendliche psychiatrische Diagnosen in der Kurzbiographie ihres Social-Media-Profils anführen, so Wiesböck. „Jene Identifikation ist wiederum verknüpft mit einer erhofften Aussicht auf digitale Aufmerksamkeit und weiterführend deren potenzieller ökonomischen Verwertbarkeit. Der Krankheitsstatus wird so zu einer neuen Art, auf Social Media dazuzugehören — oder sogar erfolgreich zu sein.”, schreibt die Forscherin. 

Dass Inhalte zur Psyche auf TikTok gerne funktionieren, hängt auch mit der Plattformlogik zusammen. Videos wie Selbsttests, Aufzählung von Symptomen oder Lifehacks sind perfekt auf den Algorithmus zugeschnitten. Kategorisierung und Schubladisierung sind beliebte Stilmittel für Inhalte auf TikTok – nicht nur bei Krankheitsbildern. Auch andere Begriffe aus der Psychologie setzen regelmäßig Trends, die genau in diese Logiken hineinspielen. „Attachment Styles“, „Love Languages“ oder „Neurodivergent vs. Neurotypical“ reihen sich in Kategorisierungstrends und Persönlichkeitstests wie „Bist du ein Rat Girl oder ein Hot Girl” oder „eine Carrie oder Miranda” (Charaktere der Kultserie Sex and the City) ein. Solche Zuordnungen sind auf TikTok besonders beliebt – sie geben uns Eindeutigkeit und Selbstverortung. Das kann beruhigen, unterhalten und wieder Identität stiften. 

Neben den oft spielerischen, unterhaltsamen Kategorisierungen haben es auch Begriffe aus der Psychologie wie „Trauma“, „toxisch“ oder „Trigger“ über soziale Medien in den Alltagssprachgebrauch geschafft. Das sorgt nicht nur für übermäßige Selbstdiagnosen, sondern birgt Risiken, betont Barbara Haid: „Nicht jeder Schmerz oder Schock ist gleich ein Trauma. Komplex traumatisierte Menschen sind schwerstkrank. Wenn ich von meinem Partner oder meiner Partnerin verlassen werde, kann mich das psychisch sehr belasten, aber das ist nicht zwangsweise ein Trauma.” Die leichtfertige Nutzung solcher Begriffe führe zu einer Desensibilisierung und entwerte die Erfahrungen tatsächlich betroffener Menschen, so die Psychotherapeutin.  

Ein verantwortungsvoller Umgang ist nötig 

Die Beschäftigung mit psychischer Gesundheit auf TikTok bleibt ein Balanceakt. Einerseits bietet die Plattform wertvolle Chancen zur Aufklärung und Vernetzung, andererseits drohen Selbstdiagnosen, Romantisierung und Kommerzialisierung den Leidensdruck tatsächlich Erkrankter zu erhöhen. Ein reflektierter und verantwortungsvoller Umgang seitens Influencer:innen sowie Nutzer:innen ist deshalb entscheidend. Barbara Haid hat klare Handlungsempfehlungen:

Wenn es dir nach dem Konsum der Inhalte schlechter geht, entfolge dem Account. Prüfe genau, wer hinter einem Profil steckt. Und bei ernsthaften Anliegen solltest du dich unbedingt an Personen in deinem realen Umfeld, am besten an Fachpersonal wenden – nicht nur an TikTok.


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