„Putin ist zu allem fähig und mit ihm gibt es keine Verhandlungen.“ Mit diesen eindringlichen Worten wandte sich Yulia Nawalnaya, die Witwe des prominenten Kreml-Kritikers Alexei Nawalny, zwölf Tage nach dem Tod ihres Mannes in einer emotionalen Ansprache an das Europäische Parlament. Die Abgeordneten reagierten mit Applaus, während Nawalnaya mit müdem Lächeln und zitternder Stimme ihre Rede von einem Blatt Papier ablas. Sie äußerte die Befürchtung, russische Behörden würden jene festnehmen, die sich bei der Beerdigung ihres Mannes von ihm verabschieden wollten.
Am 16. Februar 2024 verkündete der Föderale Strafvollzugsdienst der Russischen Föderation (FSIN) den Tod Alexei Nawalnys. Die Nachricht erschütterte die ganze Welt. Für viele starb mit Nawalny ein Großteil der Hoffnung auf Veränderung in Russland. Doch noch zu Lebzeiten ebnete der Politiker den Weg für ein mögliches Russland ohne Putin. Wie sieht dieser Weg heute aus? Und welche Perspektiven bleiben für eine Opposition, die ihren prominentesten Anführer verloren hat?
Nawalnys Tod hinterließ ein Vakuum in der russischen Opposition. Das bestätigt der Russland-Experte Alexey Tikhomirov, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Bielefeld. “Das Regime Putins ist noch autoritärer und radikaler geworden. Es benötigt immer neue Sündenböcke, um die Gesellschaft in ständiger Alarmbereitschaft gegen vermeintliche innere Feinde und äußere Bedrohungen aus dem Westen zu halten.”
Der Kreml verbot lange vor seinem Tod, im Jahr 2021, Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung FBK, viele seiner Mitstreiter flohen ins Exil oder sind in Haft. Dennoch bleibt sein Erbe präsent. “Nawalny ist tot, aber nicht sein Vermächtnis. Der Kreml fürchtet ihn selbst im Tod und beneidet das, was Nawalny authentisch hatte: Mut, Popularität, eine liebende Familie und seinen unvergleichlichen Sinn für Humor”, erklärt Tikhomirov.
Zudem benutzen einige Oppositionellen Nawalnys „Smart Voting“-Strategie auch heute, selbst wenn ihre Wirkung angesichts der zunehmenden Repressionen begrenzt ist. Sie zielte darauf ab, durch strategisches Wählen alle Stimmen für die Opposition auf eine Partei zu konzentrieren. Eine Maßnahme, gegen das Zersplittern der Gegenkräfte zu Putin.
Nawalnys investigative Videos und Enthüllungen schärften das Bewusstsein für Korruption in Russland und politisierten eine junge Generation. Nawalny wurde zu einem Symbol des Widerstands gegen autoritäre Herrschaft nicht nur in Russland, sondern weltweit.
Sein Tod ist laut Tikhomirov damit nicht umsonst gewesen. “Personalistische Regime sind auf Dauer zum Niedergang verurteilt. Die offene Frage bleibt: Wird Putin es schaffen, weitere zehn Jahre ohne eine geregelte Nachfolge uneingeschränkt zu herrschen, oder wird ein neuer Nawalny kommen, der die Menschen erneut für Freiheit und Demokratie begeistert? Es gibt auf jeden Fall Zeichen der Hoffnung. Trotz der immer brutaleren Verfolgung von Oppositionellen gibt es nach wie vor Widerstand.”
Alexei Nawalny war 47 Jahre alt, als er in einer sibirischen Strafkolonie starb. Er soll vor seinem Tod ganz oben auf der Liste eines geplanten Gefangenenaustausches gestanden haben. Laut der offiziellen russischen Version starb er eines natürlichen Todes.
Seine politische Karriere begann er in den 2000er Jahren als Antikorruptionsaktivist. Zu dieser Zeit hatte sich Putin bereits als unangefochtener Machthaber etabliert. Die Justiz, die Medien, Russlands Oligarchen und selbst Wahlen schienen fest in seiner Hand zu sein. Doch Nawalny ließ sich nicht einschüchtern. Mit investigativen Blogeinträgen und viralen YouTube-Videos deckte er die Intrigen russischer Eliten auf. Bereits 2010 machte er öffentlich bekannt, Russland habe durch Korruption schätzungsweise 4 Milliarden Euro verloren. Diese Enthüllung brachte ihn schnell auf die Liste der Feinde des Regimes.
Sein Dokumentarfilm „Ein Palast für Putin“ aus dem Jahr 2021, der die mutmaßliche Korruption des russischen Präsidenten thematisierte, erreichte Millionen von Aufrufen und machte Nawalny weltweit zum bekanntesten Gesicht der Opposition.
Der Kreml reagierte mit zunehmender Härte: Er verhaftete Nawalny wiederholt, stufte seine Organisationen als „extremistisch“ ein und verfolgte jahrelang seine Mitarbeiter. Doch trotz der Repressionen gelang es Nawalny immer wieder, das Regime herauszufordern. Sei es durch Massenproteste, investigative Enthüllungen oder seine unermüdliche Präsenz in den sozialen Medien.
Auch über den Tod hinaus fürchtet Putin Nawalny. „Deshalb stilisiert das Regime Nawalny zum absoluten Tabu. Sein Name darf nicht genannt, sein Bild nicht öffentlich gezeigt werden. Trotz der Einschüchterung wird es weiterhin Zeichen des stillen Widerstands geben, sei es in Form von Blumen an Nawalnys Grab in Moskau oder an den Denkmälern für die Opfer politischer Verfolgung“, betont Tikhomirov.
Im August 2020 passierte, was viele Unterstützer Nawalnys bereits seit Jahren befürchtet hatten. Während eines Fluges von Tomsk nach Moskau fiel Nawalny ins Koma. Er war gerade dabei, politische Kampagnen gegen Putins Regime vor den bevorstehenden Wahlen zu drehen und zu veröffentlichen. Zur Behandlung musste er nach Berlin, wo deutsche Behörden bestätigten, das Nervengift Nowitschok habe die Nah-Tod-Erfahrung Nawalnys verursacht. Dasselbe Gift, das regelmäßig mit russischen Geheimdienstoperationen in Verbindung steht.
Nach seiner Genesung veröffentlichte Nawalny gemeinsam mit dem investigativen Journalistenteam Bellingcat ein Video, in dem er die mutmaßlichen Täter des Anschlags identifizierte. Das Video, das mehr als 40 Millionen Views auf YouTube erzielte, zeigte detailliert, wie Agenten des russischen Geheimdienstes FSB Nawalny verfolgen und vergiften.
Im Januar 2021 kehrte Nawalny nach Russland zurück, wo russische Behörden ihn sofort festnahmen. Doch selbst aus der Haft gelang es ihm, das Regime zu erschüttern. Sein Dokumentarfilm “Ein Palast für Putin” über die prunkvolle Liegenschaften und Privatdomizile Putins war ein Schlag gegen das Regime und ein Beweis für Nawalnys unerschütterlichen Willen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Die genauen Umstände seines Todes sind nach wie vor ungeklärt. Russland-Experte Tikhomirov vermutet, Kreml-Akteure hätten Nawalny vergiftet. “Alles deutet darauf hin, dass Putins Erzfeind im Straflager am Polarkreis gezielt hingerichtet wurde. Da wurde der ursprüngliche Plan nach dem gescheiterten Nowitschok-Anschlag vollendet.” Laut seinen Angaben untersuchen heute Nawalnys Kollegen seine Todesumstände und werden demnächst mehr darüber bekannt geben.
Ein Jahr nach Nawalnys Tod ist die russische Opposition geschwächt, aber nicht verstummt. Trotz massiver Repressionen gibt es weiterhin Menschen, die sich gegen das Putin-Regime stellen. Nawalnys Erbe und seine Bitte, im Fall seines Tod den Kampf gegen Putins korruptes System weiterzuführen, lebt in der heutigen Opposition fort.
Ob Nawalnys Vision eines Russlands ohne Putin jemals Wirklichkeit wird, bleibt ungewiss. Doch sein Mut und seine Entschlossenheit werden weiterhin Inspiration für jene sein, die an eine bessere Zukunft glauben.
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