
Um neun Uhr am Donnerstagmorgen stehe ich vor der Adresse, die mir meine Interviewpartnerin geschickt hat. Um das ganze Gebäude zu sehen, muss ich weit nach oben schauen. Die hohen Fenster und die helle Fassade erwecken eher den Eindruck eines typischen Wiener Hotels. Nur das Schild, auf dem „Laufhaus“ in weißen Druckbuchstaben geschrieben steht, verrät, wo ich mich gerade befinde. Ich gebe meiner Interviewpartnerin Bescheid und warte vor dem Eingang. Wenige Sekunden später öffnet sich die Tür und eine lächelnde Frau mit langen schwarzen Haaren bittet mich herein. Sie trägt einen kurzen schwarzen Satinmantel, hohe Strümpfe und ein Paar kuschelige Hausschuhe.
Mariella, meine Interviewpartnerin, hat, wie sie sagt, „circa alles schon gemacht“. Sie hat im Saunaclub gearbeitet, ist nun im Laufhaus tätig und schaut sich heute mit mir gemeinsam ein paar Sequenzen aus dem berühmten Film Anora an. Bei den Oscars vergangenes Wochenende hat er abgeräumt: fünf Preise, die meisten Auszeichnungen des Abends. Doch was sagt eine echte Sexarbeiterinnen dazu?
Als ich zwei Tage vor unserem Termin mit Mariella zum ersten Mal telefonierte, hatte ich gehofft, sie würde sich den Film bis zu unserem Interview angeschaut haben. Doch sie arbeitet im Laufhaus von 10 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. Die Zeit, sich nebenbei noch einen zwei Stunden langen Film anzuschauen, findet sie also kaum.
Wir betreten Mariellas Zimmer, und meine stereotypen Vorstellungen von einem Laufhaus lösen sich im nächsten Augenblick auf. Das kleine Apartment sieht, wie auch das Äußere des Gebäudes, eher wie ein gemütliches Hotelzimmer aus. Durch die Fenster fällt Sonnenlicht, auf Mariella wartet eine Kuscheldecke und eine warme Tasse Kaffee.
Ich setze mich mit meiner Interviewpartnerin auf das frisch bezogene Bett. Keinen Augenblick lang fühle ich mich unangenehm oder unbeholfen. Ich habe das Gefühl, ich treffe mich mit einer Freundin, um über einen neuen Film zu quatschen.
Außer dem Zeitmangel dürfte es aber noch einen Grund geben, warum Mariella Anora noch nicht gesehen hat. Sie ist eher skeptisch. Das gibt sie zu, sobald wir es uns gemütlich gemacht haben. „Ich schaue mir solche Filme eigentlich fast nie an. Die meisten sind ein totaler Schwachsinn.“ Die Zusammenfassung des Films hat sie schon gelesen: „Während ich den Plot durchgelesen habe, habe ich mir ehrlich gesagt zuerst gedacht, oi, schon wieder so ein Film.“
Anora erzählt die Geschichte der 23-jährigen Ani, einer Stripperin aus New York, deren Leben sich ändert, als sie sich auf eine Beziehung mit Vanya, dem Sohn eines russischen Oligarchen, einlässt. Was als glamouröses Abenteuer beginnt, mit einer Heirat in Las Vegas nach nur einer Woche, entpuppt sich schnell als emotionaler und sozialer Albtraum. Vanyas Eltern reagieren wütend und lassen letztendlich die Ehe annullieren, nachdem die Zuschauer zuvor Ani bei ihren Versuchen begleiten, das Problem noch zu lösen.
Der Film zeigt Anis Kampf mit den Erwartungen und Machtspielen der reichen Elite, während sie gleichzeitig versucht, ihre Identität und Autonomie zu bewahren. Mit einer Mischung aus Humor, Tragik und scharfer Gesellschaftskritik endet der Film in einer emotional aufgeladenen Szene, die Anis innere Zerrissenheit und die Komplexität ihrer Situation offenbart.
Die allererste Szene des Films scheint Mariellas Skepsis jedoch nur zu bestätigen. Während Anora, auch Ani genannt, mit Kunden im Club redet, pausieren wir den Film. „Bei uns rennt’s nicht so ab“, sagt Mariella sofort. „Es ist nicht so wie im Film, dass alle einfach nebeneinander arbeiten.” Der Film zeigt eine Reihe von Sesseln, auf denen jeweils eine Sexarbeiteri quasi über einem Kunden tanzt. “Wenn du in einem solchen Club bist, ist es tatsächlich so, dass man sich vielleicht dazusetzt und man redet mit möglichen Kunden. Aber es ist schon sehr überzeichnet. Ist ja klar, es ist ein Film.“
Mit jeder Szene, die wir uns gemeinsam anschauen, scheint Mariella immer entspannter zu werden. In dem Moment, in dem Vanya, der Sohn des russischen Oligarchen, Ani bittet, seine Freundin für eine Woche zu werden, nennt die junge Hauptfigur einen Preis: Sie würde es für 15.000 Dollar in Bar machen. Da unterbricht Mariella mit einem Lächeln den Film: „Ja, hätte ich auch gesagt. Dann passt’s. Für eine ganze Woche ist das ein guter Preis. Er ist wahrscheinlich eh nett und lustig. Denn das macht man nur mit Leuten, die man mag und die nicht anstrengend sind. Sonst hält man’s kaum einen Tag aus.“
Mariella fühlt sich schließlich durch die Darstellung von Ani respektvoll repräsentiert. „Oft ist es so, dass man die Frau als armes Hascherl darstellt, das das machen muss. Aber das ist einfach eine coole, junge Frau, die halt das arbeitet. Sie ist eine Businessfrau, die auch ihre Gefühle hat und ein normaler Mensch ist. Was die Leute dann oft auch vergessen: Dass wir einfach auch ganz normale Frauen sind und uns auch verlieben können.“
Und genau das passiert Anora im Film. Auf die Frage, ob es überhaupt vorkommen kann, dass Sexarbeiterinnen Gefühle für Kunden entwickeln, nickt Mariella: „Wenn man jemanden dann mag und es einfach zwischenmenschlich passt, wenn man Spaß miteinander hat und er dir auch vom Typ her gefällt, kann es natürlich passieren. Aber sehr selten.“
Mariella betont genau deswegen, wie wichtig es ist, Beruf und Privatleben zu trennen. „Das ist für mich zum Glück ganz leicht. Hier ist es quasi ein mechanischer Beruf, ein handwerklicher Beruf. Zu Hause ist einfach zu Hause, wo mein Herz auch dabei ist. Hier kriege ich Geld dafür, ich mache das, was quasi erfordert ist, und dann gehe ich heim.“
Sie hat sich bewusst für diesen Job entschieden. Dass Menschen das verstehen, ist ihr auch in der Darstellung von Sexarbeit in den Medien wichtig. „Ich wollte diesen Beruf machen, weil ich mir gedacht habe, das passt gut zu mir. Jeder macht den Beruf, für den er irgendwie geeignet ist. Ich war halt dafür geeignet, weil ich ein Mensch bin, der irrsinnig gut Sachen trennen und abschalten kann. Ich bin eigentlich auch eine ganz gute Schauspielerin. Das muss man in dem Job sein.“
Trotz des Erfolgs von Anora glaubt Mariella aber nicht, dass der Film zu einem besseren Verständnis von Sexarbeit in der Gesellschaft führen wird. „In keinem Fall. Die Leute sehen uns nach wie vor entweder als Bedrohung für ihre Beziehung oder denken, wenn man so etwas macht, dann ist man abgestürzt und hat wahrscheinlich irgendwelche Probleme. Die meisten Männer wissen, wie es wirklich abläuft, weil sie zu uns kommen, können es aber wegen der Stigmatisierung der Branche nicht so thematisieren.“
Mariella wünscht sich realistischere Filme über Sexarbeit. Jedoch kann sie sich nicht vorstellen, dass die in naher Zukunft kommen werden: „Wenn man es so darstellen würde, wie es wirklich ist, würde es wahrscheinlich schon manche Menschen anziehen. Aber ich glaube, da würde ihnen so dieser Kick fehlen, dieses Verbotene. Weil sie würden dann sehen: Das ist ein normaler Job. Nicht so spannend wie das Drumherum, diese Puff-Atmosphäre und düstere Männer, Zuhälter, Drogen, Waffen. Das ist natürlich viel spannender.“
Nachdem wir uns die wichtigsten Sequenzen des Films zusammen angeschaut haben, kommen wir zum Ende des Films. Im Netz scheint dies der kontroverseste und am meisten diskutierte Aspekt des Films zu sein. Denn nachdem Ani die meiste Zeit damit verbracht hat, einen Angestellten von Vanyas Familie, Igor, zu beleidigen, steigt sie in der allerletzten Szene auf ihn und initiiert Sex mit ihm. Doch in dem Moment, als er versucht, sie zu küssen, bricht sie plötzlich in Tränen aus. Für viele zeigt die Szene ihre innere Zerrissenheit und die Komplexität ihrer Gefühle, ein Mix aus Verzweiflung, Macht und Ohnmacht.
Mariella ist auch beeindruckt: „Sie hat das Emotionale sehr gut dargestellt. Es ist irrsinnig gut geschauspielert, das muss ich sagen. Das war ein verzweifelter Versuch von ihr, mit ihrem Business das Ganze zu überdecken und sich irgendwie ihren Spaß zu holen. Aber es hat halt nicht funktioniert. Sie war doch betroffen.“
Mariella ist nicht die einzige Sexarbeiterin, mit der ich über den Oscar-Liebling Anora diskutiert habe. Auch Luna, eine 23-jährige Escort aus Berlin, hat ihre Meinung mit mir geteilt. Sie hat jedoch eine andere Perspektive auf den gefeierten Film. Im Gegensatz zu Mariella sieht sie ihn kritisch: „Ich war sehr enttäuscht. Ich hatte etwas Realitätsnahes erwartet, aber es kam mir eher vor wie ein Actionfilm, der versucht, Spannung aufzubauen, statt das reale Leben einer Sexarbeiterin darzustellen.“
Besonders die Darstellung der Beziehung zwischen Ani und dem reichen Russen Vanya findet Luna übertrieben: „Das Szenario, dass sie mit ihm in den Urlaub fährt, er ihr viel Geld anbietet und nach einer Wochen heiratet, ist sehr überspitzt und nicht wirklich realistisch.“ Dennoch lobt sie einige Aspekte, wie die emanzipierte Darstellung der Frauen im Stripclub: „Die Anfangsszene fand ich gut. Die Frauen wurden selbstbewusst gezeigt, das hat mir gefallen.“
Luna betont jedoch, dass der Film die Vielfalt der Sexarbeit nicht einfängt: „Es gibt Highclass-Escorts, Straßenarbeit, Hotelarbeit – das kann man natürlich nicht in einem einzigen Film abbilden. Aber ich hätte mir gewünscht, dass mehr Alltag und Normalität gezeigt wird, statt nur Drama und Klischees.“
Auch das Ende des Films hinterlässt bei Luna, anders als bei Mariella, eher einen bitteren Beigeschmack: „Die letzte Szene, in der Ani mit Igor schläft und dann zusammenbricht, hat mich irritiert. Es fühlte sich an, als würde sie wieder als Opfer dargestellt. Das verstärkt nur das negative Bild, dass Sexarbeit zwangsläufig leidvoll ist.“
Trotz ihrer Kritik sieht Luna auch positive Aspekte: „Es war gut, dass Ani als Individuum mit Persönlichkeit gezeigt ist und nicht nur auf ihre Arbeit reduziert ist. Aber ich wünsche mir mehr Diversität und weniger Pathologisierung in der Darstellung von Sexarbeit.“ Ihr Fazit: „Wenn man den Film als Unterhaltung sieht, funktioniert er. Aber als informative Quelle über Sexarbeit taugt er nicht. Wir brauchen mehr Dialog und weniger Vorurteile, sowohl in der Filmindustrie als auch in der Gesellschaft.“
Auf ihrem Blog „Die Dritte Frau“ gibt Mariella ihren Leserinnen und Lesern mehr Einblicke in das Leben einer Sexarbeiterin. Zum Abschluss unseres Gesprächs gibt sie dann jungen Frauen, die überlegen, in die Sexarbeit einzusteigen, einen Rat: „Man muss sich der Stigmatisierung bewusst sein. Wenn ich etwas machen will, muss ich immer Pro und Kontra für mich abwägen. Kann ich mit sowas leben? Kann ich damit umgehen? Wenn du dann sagst, ja, eigentlich schon, dann passt’s auch. Weil es ist einfach gut, immer das zu machen, worauf man Lust hat. Man lebt ja im besten Fall nur einmal.“
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