
Während ich durch Singapur spaziere, passiere ich auf Hochglanz polierte Hochhäuser mit begrünten Fassaden und Dachgärten. Unzählige Parks säumen die Stadt und sorgen mit satten Grüntönen für Naherholung. Alles scheint durchdacht, effizient und makellos. Tempel, Kirchen und Moscheen spiegeln die Diversität des Zwergstaates wider.
In den Morgenstunden eilen Menschen aller Länder in Anzügen und Overalls zur Arbeit und den Universitäten. Auf den ersten Blick erweckt Singapur den Eindruck einer wahrgewordenen Utopie. Doch hinter der glänzenden Skyline verstecken sich seine Schattenseiten. Leistungsdruck in Schule und Beruf, hohe Lebenserhaltungskosten und ein autoritäres Regime gehören zum Alltag der Singapurer.
Singapur war lange ein kleines Fischerdorf. 1819 gründete der Brite Sir Stamford Raffles dort einen Handelsposten und machte es damit zur britischen Kolonie. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich Singapur zu einem wichtigen Handels- und Militärstützpunkt der Briten.
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Während des Zweiten Weltkriegs besetzten die Japaner die Stadt für drei Jahre. 1959 erhielt Singapur Selbstverwaltung, bevor es 1963 der Föderation Malaysia beitrat. Nach seinem Ausschluss aus Malaysia erlangte der Stadtstaat 1965 seine Unabhängigkeit.
Lee Kuan Yew, der erste Premierminister des unabhängigen Singapur, hatte eine Vision. Der Stadtstaat sollte multikulturell, wirtschaftlich stark und modern werden. Auch als kleines Land sollte Singapur international konkurrenzfähig sein.
Dafür nutzte er die günstige Lage an einer der wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt. Er förderte Freihandel, ausländische Investitionen und die Exportwirtschaft. Yews wirtschaftsfreundliche Politik mit niedrigen Steuern und wenig Bürokratie machte den Stadtstaat für internationale Unternehmen und Banken attraktiv.
Um seine Vision zu verwirklichen, reformierte er auch das Bildungssystem. Yew machte Englisch zur Hauptsprache, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu gewährleisten. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik; diese Fächer standen im Mittelpunkt.
Das sollte die Singapurer auf die bestbezahlten Jobs vorbereiten und ihnen Vorteile auf dem internationalen Arbeitsmarkt verschaffen. Gleichzeitig förderte der Staat Programme des lebenslangen Lernens. So sollte sich die Bevölkerung an den technologischen Wandel anpassen.
Auch in Sachen Nachhaltigkeit ist Singapur voraus. Es nutzt digitale Technologien, um den Verkehrsfluss zu steuern. Begrünte Fassaden und Dachgärten sollen die Stadt trotz begrenztem Platz klimaresistenter machen. Meerwasserentsalzung und moderne Recycling-Technologien sichern die Wasserversorgung der Stadt. Kaugummikauen ist verboten und mit Geldstrafen verbunden. Rauchen ist nur in markierten Zonen erlaubt.
Yews Modell gilt trotz enormen Leistungsdrucks, hoher Lebenshaltungskosten und autoritärer Züge, wie fehlender Pressefreiheit und Einschränkung der Handlungsmacht der Opposition, bis heute als Erfolgsmodell. Ein Lokalaugenschein zeigt seine Schattenseiten.
Rezeptionist Zym Benshahab durfte wegen zu schlechtem Notendurchschnitt nicht studieren. (Foto: Lara Hassler)
Der Rezeptionist Zym Benshahab gibt Einblicke in das Bildungssystem Singapurs. „In Singapur entscheidet sich der weitere Verlauf deines Lebens im Alter von zwölf Jahren.“ In dem Alter schreiben die Schüler die Volksschulabschlussprüfungen.
Eltern und Schüler bereiten sich oft jahrelang darauf vor. „Bereits hier spielen Leistungs- und Konkurrenzdruck eine große Rolle. Viele leiden unter Stress, Angstzuständen und Schlafmangel, da hohe Noten als Schlüssel zu sozialem und wirtschaftlichem Aufstieg gelten“, sagt Zym.
Nach den Abschlussprüfungen der Grundschule erfolgt eine Einteilung der Schüler in verschiedene Bildungswege. Die Leistungsstärksten kommen in den sogenannten Express Stream, eine anspruchsvolle Ausbildung, die auf die A-Levels vorbereitet.
Sie absolvieren mit 16 Jahren zunächst ihre Prüfung für den O-Level, einer Vorstufe der A-Levels, und bekommen im Erfolgsfall direkten Zugang zu den Junior Colleges, die den Weg zu den renommierten Universitäten des Landes und in der Folge zu den bestbezahlten Jobs ebnen. Dafür bezahlen sie einen hohen Preis. „Oft lerne ich zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag. Für Freizeitaktivitäten und Sport habe ich kaum Zeit“, erzählt Zym. Das schlägt sich auch auf die mentale Gesundheit nieder.
Schüler weniger anspruchsvoller Bildungseinrichtungen wie Normal Academic oder Normal Technical Stream erhalten eine praxisorientierte Ausbildung mit beruflichen oder technischen Schwerpunkten. Die meisten Absolventen dieses Bildungswegs besuchen später keine Universität. So auch nicht Zym.
„Mich hat die Schule nie interessiert. Ich bin nur ein- oder zweimal die Woche hingegangen und habe die Abschlussprüfungen bestanden. Meine Leistungen waren nicht gut genug für den Express Stream.“ Heute bereut es Zym, nicht studiert zu haben. „Mein Leben wäre ganz anders verlaufen“.
Auch an Singapurs Universitäten bleibt der Leistungsdruck enorm. Ein Notendurchschnitt von 4.0, das entspricht je nach Uni einem Gut oder Sehr gut in Österreich, ist oft notwendig, um für Top-Programme oder Auslandsstipendien infrage zu kommen.
Arbeitgeber bevorzugen Absolventen mit Bestnoten und relevanten Praktika. Studierende kämpfen um begehrte Stellen in Technologie, Finanzen oder Consulting, oft mit internationaler Konkurrenz. Viele absolvieren zusätzliche Zertifikate oder Kurse, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
Die Studentin Rachel Tan verdient sich neben der Uni als Barista Geld dazu. (Foto: Lara Hassler)
So auch die Studentin Rachel Tan. Sie studiert Business Administration an der University of Singapore (NUS), einer der beiden Elite-Unis des Landes. „Ich studiere dieses Fach, weil es meinen Eltern wichtig war, dass ich später einen stabilen und gut bezahlten Job habe. Ich interessiere mich für Marketing und Unternehmensstrategie, aber im Endeffekt war das Studium eine pragmatische Entscheidung“, so Rachel.
Was es nicht weniger anspruchsvoll macht. „Ich habe Vorlesungen, Fallstudien, Gruppenprojekte und Tests fast jede Woche. Ein Modul hat offiziell vielleicht drei Stunden Vorlesung pro Woche. In Wirklichkeit investiere ich aber 10 bis 15 Stunden pro Fach, weil es so viele zusätzliche Aufgaben gibt.“
Gruppenarbeiten empfindet die 22-Jährige als besonders herausfordernd. „Alle sind sehr ehrgeizig und erwarten immer die beste Leistung.“ Den Konkurrenzdruck beschreibt Tan als „immens“. Die Universität verwendet das Konzept „Bell Curve Grading“. Das heißt, die eigenen Noten hängen von den Leistungen anderer Studierender ab. „Wir können gar nicht anders als uns ständig zu vergleichen.“
Der Druck schlägt sich bei vielen auf die Psyche. „Es gibt Wochen, in denen ich kaum schlafe, weil ich für Prüfungen lernen muss oder an Projekten arbeite.“ Kaffee, Energy-Drinks oder sogar Medikamente sollen dann helfen, um wach zu bleiben. Die Uni stellt zwar psychologische Beratungsangebote bereit, doch nur wenige nehmen sie an. „Sich Hilfe zu holen, wird immer noch als Schwäche angesehen“.
Auch die hohen Lebenserhaltungskosten werfen Schatten auf die vermeintliche Zukunftsutopie. Die Monatsmieten für eine kleine Wohnung in zentraler Lage liegen umgerechnet zwischen 1.700 und 2.700 Euro. Auch weiter außerhalb sind die Mieten mit mindestens 1.350 Euro immer noch hoch.
Während das für Topverdiener keine Hürde darstellt, kämpfen Durchschnittsverdiener mit den hohen Kosten. Im Schnitt verdienen die Singapurer 6.600 Singapore Dollar im Monat. Tan arbeitet neben der Uni 20 Stunden pro Woche in einem Café als Barista. Sie verdient 10 Dollar pro Stunde. Im Monat sind das im Schnitt 800 Dollar. Ohne die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern könnte sie sich die Miete nicht leisten.
Ähnlich verhält es sich mit den Lebensmittelpreisen. Sie zählen zu den höchsten in Südostasien. Grundnahrungsmittel sind besonders teuer. Ein Liter Milch kostet im Schnitt 2,50 Euro, ein Kilo Reis zwischen zwei und vier Euro. Grund dafür ist vor allem die Abhängigkeit von Importen. Mehr als 90 Prozent der Nahrungsmittel kommen aus dem Ausland.
Das Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Doch auch erstklassige medizinische Versorgung hat in Singapur ihren Preis. Mit Programmen wie MediShield Life, eine verpflichtende Grundversicherung, versucht der Staat die Gesundheitskosten gering zu halten.
Die Grundversicherung deckt aber lange nicht alles ab. Ein Facharztbesuch beläuft sich auf 20 bis 50 Euro. Die Notaufnahme in öffentlichen Krankenhäusern kostet zwischen 60 und 80 Euro. In Privatspitälern ist sie deutlich teurer.
Komplizierte Behandlungen sind für Durchschnittsverdiener trotz Krankenversicherung oft nur schwer leistbar. Zehn bis zwanzig Prozent der Behandlungskosten müssen sie im Schnitt selbst bezahlen. Bei einer Blinddarm-OP sind das zwischen 600 und 1.700 Euro. Bei Krebsbehandlungen zwischen 3.000 und 20.000 Euro.
Der Taxifahrer und Matrose Jeremy Lee hat zwei Jobs, um sich und seine Familie über die Runden zu bringen. (Foto: Lara Hassler)
Viele Singapurer machen jeden Tag Überstunden, um sich die hohen Lebenserhaltungskosten und Mieten leisten zu können. Oft haben sie sogar zwei Jobs. So geht es auch dem Matrosen und Taxifahrer Jeremy Lee, wie er im Interview erzählt. „Ohne meinem zweiten Job würde es für mich und meine Familie knapp werden.“
Jeremy arbeitet jeweils fünf Tage am Stück auf einem Öltanker als Matrose und hat anschließend fünf Tage frei. An den Tagen auf dem Öltanker arbeitet er weit über acht Stunden täglich.
An den freien Tagen verdient er sich als Taxifahrer Geld dazu. „Ich fahre dann meistens zwischen drei und fünf Stunden am Tag“. Wochenenden gibt es für Jeremy nicht. Die Gehälter pro Stunde sind mit 37 Dollar für Durchschnittsverdiener niedrig. „Um meiner Familie ein gutes Leben zu ermöglichen, muss ich meine Zeit opfern. Ich sehe meine Frau und meine Kinder kaum.“
Mit seinem Job auf dem Öltanker verdient Jeremy 6.540 Dollar im Monat. Das entspricht rund 4.700 Euro. Nach österreichischen Maßstäben klingt das nach einem guten Gehalt. In Singapur liegt es unter dem Durchschnitt. Mit diesem Gehalt ist es schwierig eine ganze Familie zu ernähren. „Ziehe ich von meinem Gehalt Miete, Essen, Verkehrsmittel und Schulkosten für die Kinder ab, bleibt nicht viel übrig.“
Jeremys zweiter Job als Taxifahrer bringt ihm im Monat zusätzliche 2.400 Dollar ein. Das erleichtert die finanzielle Situation der Familie ein wenig, geht aber meist für Schulmaterial oder kleinere Reparaturen am Haus drauf. Mit dem zusätzlichen Geld will er der Familie von Zeit zu Zeit eine kleine Freude bereiten. „Dann hol ich nach der Arbeit eine Pizza für die Kinder.“
Der größte Teil des Einkommens geht für die Miete drauf. „Wir leben in einer 4-Zimmer-HDB-Wohnung in Tampines, nicht einmal im Stadtzentrum. Trotzdem zahlen wir 3.200 Dollar im Monat. Vor zehn Jahren waren das noch 2.000 Dollar.“ Lebensmittel, Transport, Schulgebühren und Gesundheitskosten summieren sich für die Familie auf 2.700 Dollar monatlich. „Für die Mittelschicht ist Singapur kein Paradies“.
Jeremy wünscht sich, in Zukunft nur noch einen Job ausführen zu müssen. „Dann hätte ich mehr Zeit für meine Familie und sogar für ein Hobby. Ich würde so gerne mal wieder Fußball spielen“. In naher Zukunft ist das jedoch nicht absehbar. Mieten und Lebenserhaltungskosten steigen in der Metropole weiter an.
Das kann auch die Regierung nicht verhindern. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie dem Land zu wirtschaftlichem Erfolg, Sauberkeit und Sicherheit verholfen. Deswegen erntet sie trotz autoritärer Regierungsform wenig Kritik. Meinungsfreiheit, Opposition und bürgerliche Mitbestimmung haben in Singapur wenig Raum. Eine weitere Schattenseite der Schein-Utopie zeigt sich.
Das Land bezeichnet sich als „demokratische Republik“. Seit seiner Unabhängigkeit 1965 regiert aber die gleiche Partei, die People’s Action Party (PAP), das Land. Sie hat die Gesellschaft fest im Griff.
Zym gibt im Gespräch Einblicke in die politische Realität Singapurs. „Wahlen finden zwar statt, aber die PAP dominiert die Politik seit Jahrzehnten.“ Dahinter stecken nicht nur wirtschaftlicher Erfolg und geschicktes Nation-Building. Die Partei profitiert von einem restriktiven Wahlsystem. „Sie verschiebt die Wahlkreise vor der Wahl zu ihren Gunsten. Gleichzeitig hat die Opposition kaum Zugang zu Medien und Finanzierung.“
Wer die Regierungspartei kritisiert, riskiert Verleumdungsklagen. Gesetze, wie jenes zur „Eignung von Kandidaten“, machen es der Regierung leicht Oppositionspolitiker von den Wahlen auszuschließen.
Die Präsidentschaftskandidaten müssen singapurische Staatsbürger und mindestens 45 Jahre alt sein. Dem Gesetz zufolge müssen sie außerdem eine Person von Integrität, gutem Charakter und hohem Ansehen sein.
Auch für die Pressefreiheit schaut es nicht gut aus. Der Staat kontrolliert Zeitungen und Fernsehsender. Unabhängige Medien kämpfen ums Überleben. „Reporter ohne Grenzen“ zufolge rangiert der Stadtstaat bei der Pressefreiheit auf Platz 129 von 180 Ländern. Autoritäre Hochburgen wie Russland, Türkei und Ägypten schneiden besser ab.
Wer sich kritisch äußert, muss mit drastischen Konsequenzen rechnen. Demonstrationen sind nur mit Genehmigung erlaubt. Doch Genehmigungen gibt es kaum. „Seit 2019 gibt es ein „Fake News“-Gesetz. dDas gibt der Regierung die Möglichkeit unliebsame Informationen als „irreführend“ zu bezeichnen und zu löschen“, erklärt Zym.
Selbst die Sozialen Medien sind Singapurs Justiz unterworfen. Wer sich auf Instagram oder TikTok kritisch über die Regierung äußert, der kann sich eine Klage wegen des Stiftens „öffentlicher Unruhe“ einhandeln.
Singapur rühmt sich mit seinen niedrigen Kriminalitätsraten. Der Grund sind radikale Gesetze. Drogendelikte bestraft der Staat ab einer bestimmten Menge mit der Todesstrafe. Kleine Vergehen wie Vandalismus haben oft Körperstrafen wie Stockhiebe zur Folge.
„2013 ließ die Regierung den Briten Oliver Fricker öffentlich auspeitschen, weil er in der U-Bahn Graffiti gesprüht hatte. Solche Verfahren sollen potenzielle Nachahmer abschrecken“, sagt Zym. In politischen Verfahren gibt es kein Recht auf einen fairen Prozess.
Singapur ist doch nicht der perfekte Stadtstaat. Erzählungen von Einheimischen machen Makel des Vorzeigestaates sichtbar. Auf dem Weg zum Flughafen fallen mir ein paar Grashalme auf, die nicht perfekt gestutzt sind. Eine Cola-Dose liegt kaum sichtbar neben einem Laternenmast. Von einer Hauswand blättert die Farbe ab. Kleine Risse in einem fehlerfreien Bild.
Hinter den gigantischen Hochhäusern und perfekt gepflegten Grünflächen offenbart sich ein Alltag, der von Leistungsdruck, hohen Kosten und strikter Kontrolle geprägt ist. Singapur ist keine wahrgewordene Utopie. Der Tigerstaat ist nur Meister darin eine glänzende Fassade aufrechtzuerhalten.
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