
Um neun Uhr läutet die Schulglocke. Ella sitzt mit ihren Freundinnen auf dem Teppich. Gemeinsam versuchen sie, die Englisch-Aufgabe zu lösen, während Lucas den Rücken seines Freundes beim Rechnen als Tisch benutzt. Durch die offenen Fenster weht eine angenehme Brise, die nach Sommer und Meer riecht. Draußen auf dem Schulhof, umgeben von Palmen und Büschen, übt die erste Klasse in ihren Schuluniformen einen Haka, den traditionellen Māori-Tanz, für die bevorstehende Schulaufführung. Mit einem fröhlichen Lächeln setzt sich der Lehrer neben Lucas auf den Boden und betrachtet seine kreative ,,Unterlage‘‘. ,,Denkst du, das ist eine gute Idee, was du da machst?‘‘, fragt er lächelnd.
So beginnt ein ganz normaler Schultag in Neuseeland. Das Klassenzimmer wirkt eher wie ein Wohnzimmer, in der offenen, ruhigen Atmosphäre kann Vertrauen entstehen. Bei österreichischen oder deutschen Lehrern würde es wohl Stirnrunzeln auslösen. Ebenso wie die Leistungsbewertung. Die gibt es gar nicht, zumindest nicht bis zur zehnten Schulstufe, nach österreichischen Maßstäben also bis zur Oberstufe. Keine Noten, nichts. Doch Neuseeland zeigt, dass es auch so geht. Bildungsforscher John Hattie, selbst Neuseeländer, betont dabei die Rolle der Lehrkräfte. ‘‘Gute Lehrkräfte erzielen eine hohe Wirkung, indem sie ihre Schüler motivieren und deren Leistungen steigern‘‘, sagt er. In der PISA-Studie 2022 landet Neuseeland auf Platz 13, während Österreich auf Platz 21 und Deutschland auf Platz 24 liegen. Wie funktioniert das?
Zunächst sind schon die Null- bis Fünfjährigen in den Bildungsbetrieb eingebunden. „Early Learning“ nennen die Neuseeländer, was im deutschen Sprachraum „Kindergarten” heißt. Für diese Altersgruppe läuft es ganz ähnlich wie in der mitteleuropäischen Elementarpädagogik. Es wird gespielt, entdeckt und gemeinsam gelernt, mit viel Raum für Entwicklung und soziales Miteinander.
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Am fünften Geburtstag gibt es nicht nur Kuchen und Geschenke, von da an dürfen die Kinder die Schule besuchen. Einen fixen Termin wie in Österreich den 1. September gibt es nicht. Die Kinder kommen, wenn sie so weit sind. Verpflichtend ist der Schulbesuch erst ab sechs Jahren.
Zunächst steht spielerisches Lernen am Plan. Sie lernen im Kreis am Boden sitzend, in der Klasse oder, bei schönem Wetter, draußen am Schulhof. Der Lehrstoff folgt keinem genauen Plan. Die Lehrer geben Themen vor und fördern die Ideen der Kinder dazu, wobei Teamwork statt Konkurrenz zählt.
Die Lehrer beobachten, unterstützen und besprechen die Fortschritte mit Eltern und Schülern. Selbst die Leistungsbewertung ab 15 bis 16, also ab dem letzten Pflichtschuljahr, erfolgt ohne Noten. Dafür gibt es ein Punktesystem, das sogenannten NCEA (National Certificate of Educational Achievement). Es gibt nicht an, wie gut Schüler im Vergleich zu anderen sind. Vielmehr zeigt es, ob Schüler bestimmte Lernziele erreicht haben. Für jede bestandene Aufgabe oder Prüfung erhalten sie Punkte. Für den erfolgreichen Schulabschluss brauchen sie eine ausreichende Punktezahl.
Ab der Oberstufe, der Highschool, bieten sich den Schülern neben wenigen Pflichtfächern zahlreiche Wahlfächer von Schauspiel über Modedesign bis IT und Robotik an. Viele Schüler wählen Māori-Fächer wie Te Reo Matatini, der Māori Sprache und Kultur. Besonders beliebt ist das Fach Outdoor Education, bei dem es um Bewegung in der Natur geht. Beim Klettern überwinden sie ihre eigenen Grenzen, beim Segeln lernen sie, dass sich Ziele am besten gemeinsam erreichen lassen. Teamgeist und Vertrauen stehen hier am Lehrplan. ‘‘Ich gehe seit der Highschool klettern und stelle mich dabei immer wieder meiner Höhenangst‘‘, sagt die 13-Jährige Lea Wolfersberger, die mit ihrer Familie von Oberösterreich ins neuseeländische Christchurch zog. ‘‘Ich habe großes Vertrauen in meine Mitschüler, denn wir sind ein eingespieltes Team.‘‘
Digitaler Unterricht ist in Neuseeland längst Alltag. Schon die Kleinsten nutzen Chromebooks. Die Regierung stellt Lizenzen für Programme wie Google Classroom bereit und Lehrer nehmen laufend an digitalen Fortbildungen teil. „Wir schreiben fast alles digital“, erzählt Lea Wolfersberger. „Es gibt kaum Prüfungen, aber wir haben Gruppenarbeiten. Ich lerne wieder gern, weil ich keinen Druck mehr spüre.“
Gleiche Chancen für alle: In Neuseeland sorgen Schuluniformen für ein Miteinander. (Foto: Shutterstock)
Der Druck, im angesagten Outfit in die Schule zu kommen, ist dem neuseeländischen Nachwuchs auch fremd. Fast alle Schulen verlangen eine Schuluniform. Die besteht meist aus Hemden, Hosen oder Röcken in den Farben der Schule. Dazu kommen Poloshirts, Blazer oder Krawatten hinzu. Schmuck ist in der Regel nicht erlaubt, es sei denn, er hat eine kulturelle Bedeutung. So etwa tragen viele Māori-Kinder einen Pounamu, einen Māori Talisman aus grünem Stein. Die einheitliche Kleidung stärkt das Wir-Gefühl und einen Alltag auf Augenhöhe, egal aus welchem Elternhaus die Schüler kommen.
Dabei leben die Neuseeländer das Prinzip Bildung für alle. Die meisten Schüler besuchen die kostenlose State School. Zahlen müssen die Eltern hier nur für Bücher, Schulbedarf und Schuluniform. Daneben gibt es, ähnlich wie in Österreich und Deutschland, staatlich integrierte Schulen, christliche zum Beispiel, aber auch Montessori- oder etwa Waldorfschulen. Und schließlich gibt es noch Private Schulen. Mit Jahresgebühren von 4.000 bis 28.000 Neuseeland-Dollar (ein Dollar entspricht rund 50 Cent), sind sie vor allem für wohlhabende Familien gedacht. Das durchschnittliche Jahreseinkommen in Neuseeland beträgt rund 90.000 Dollar.
Nach der Highschool stehen viele Wege offen. Das Land verfügt über acht Universitäten, von denen fünf zu den Top 50 weltweit zählen. Dazu kommen technologische Institute, Fachhochschulen und mehr als 600 spezialisierte Schulen. Das Studienjahr beginnt meist im Februar oder März und endet im Oktober. In den ersten Wochen organisieren viele Unis Willkommensveranstaltungen. Konzerte und Partys helfen dabei, neue Menschen kennenzulernen.
Das neuseeländische Schulsystem ist anders, aber es funktioniert. Kinder lernen ohne ständigen Leistungsdruck und Lehrer begegnen ihnen mit Respekt. Digitale Medien gehören zum Unterricht, ebenso Bewegung, Natur und gemeinsames Lernen. Aber nicht alles ist perfekt. Pasifika- und Māori-Schüler kämpfen mit sozialen Ungleichheiten. Pasifika sind Bewohner pazifischer Inseln außerhalb Neuseelands. Sie haben oft schlechteren Zugang zu digitalen Geräten oder Lernmaterialien. Trotzdem setzen sich Schulen dafür ein, niemanden zurückzulassen. Inklusion ist kein Sonderfall, sondern gelebter Alltag. Auch für John Hattie liegt die Integration an Schulen besonders am Herzen. ‘‘Diese Schulen müssen wir wertschätzen und von ihnen lernen.‘‘
Es ist kurz vor 15 Uhr. Ella liest eine Geschichte vor. Lucas braucht seine ,,Unterlage‘‘ nicht mehr, denn er hört jetzt gespannt zu. Als die Schulglocke läutet, gehen die Schüler zu ihren Scootern und Fahrrädern. Die Sonne scheint und der Sand glitzert. Mit warmen Strahlen im Gesicht geht es nach Hause. Lernen passiert hier einfach so, ohne Druck, ohne Noten und mit viel Freude.
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