
Die Tätigkeit des Lesens wird häufig als ein besonders wichtiges Kulturgut definiert. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen ist das Lesen eine Grundvoraussetzung, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Kommunikation findet in vielen Bereichen schriftlich statt, man denke an Zeitungen, Werbungen, E-Mails oder sogar WhatsApp/SMS. Auch die Teilnahme am politischen Diskurs ist ohne Lesefähigkeiten nicht möglich. Darüber hinaus ermöglicht Lesen den Zugang zu Wissen und zu Bildung. Menschen, die lesen können, sind in der Lage, sich eigenständig weiterzubilden, einfach, indem sie Bücher und andere Texte konsumieren. Nicht zu vernachlässigen ist das Lesen als Brücke zur eigenen und fremden Kulturen. Das Lesen von Romanen, Gedichten, von Geschichten allgemein, regt uns an, Gespräche darüber zu führen. Die Lesekultur ist von großer Bedeutung: Sie fördert Sprache, Wissen, kritisches Denken und Empathie. Damit bildet sie die Grundlage für Bildung, gesellschaftliche Teilhabe und kulturelle Identität. Die Lesekultur selbst setzt sich aus mehreren Praktiken zusammen. Zu diesen zählt nicht nur das Lesen selbst, sondern auch das Gespräch über Literatur und die Produktion dieser.
„Keiner liest mehr“ – eine oft geäußerte Behauptung, insbesondere von jenen Menschen, die dem Lesen einen hohen Stellenwert beimessen. Diesen Eindruck kann man als Kulturpessimismus bezeichnen. Die vermeintlichen Schuldigen für den Rückgang der Lesekultur sind ebenfalls schnell gefunden: Smartphones und das Internet. Die Jugend verbringe ihre Zeit angeblich ausschließlich online, sei es beim stundenlangen „Doom-Scrollen“ auf TikTok oder Instagram. Tatsache ist, dass die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit für das Lesen, das Buch, insbesondere als Freizeitbeschäftigung enorm ist und stetig weiter wächst. Laut einer Marktforschungsstudie von Spectra aus dem Jahr 2018 lesen die Österreicher*innen im Durchschnitt nur rund vier Bücher pro Jahr. Im Gegensatz dazu nutzten im Februar diesen Jahres in Österreich 3,25 Millionen Personen Instagram, TikTok verzeichnet 2,33 Millionen Nutzer*innen – Zahlen, die mit der geringen Anzahl gelesener Bücher kaum vergleichbar sind. Da ist es kaum verwunderlich, wenn bei vielen Personen der Eindruck entsteht, dass niemand mehr lesen würde. Auch die Angst, dass das Internet Bücher verdrängen und obsolet machen könnte, wird nachvollziehbar.
Setzt man sich jedoch näher mit den Inhalten auseinander, die auf sozialen Medien konsumiert werden, offenbart sich ein ganz anderes Bild. Die Hashtags #booktok , #bookstagram oder auch #booktube verzeichnen auf den jeweiligen Plattformen Millionen von Posts. Die Menschen teilen unter diesen Tags kunstvoll inszenierte Aufnahmen ihrer Bücherregale, das letzte Buch, das sie gelesen haben, oder teilen in Videos gar die liebsten Bücher des vergangenen Monats. Seit 2022 stellt die Leipziger Buchmesse Bookstagram und Booktok Influencer eine eigene Bühne bereit. Die Verlage passen sich an die online “gehypten” Wünsche der Leser*innen an. Nicht selten kann in Buchgeschäften ein “Booktok”-Tisch gefunden werden, auf dem Bücher, die auf TikTok gerade besonders beliebt sind, ausgestellt werden. Allein im Jahr 2023 wurden über 12 Millionen Booktok-Bücher verkauft. Das sind 56 % mehr als noch im Jahr davor. Der Zuwachs an verkauften Büchern ist jedoch allgemein zu beobachten. Im Vergleich der Verkaufszahlen von 2022 zu 2023 verzeichnet der Buchmarkt in den Bereichen Belletristik, Kinder- und Jugendliteratur, Schule und Lernen, sowie bei den Sachbüchern, deutliche Verkaufszuwächse. Das wäre kaum möglich, würde tatsächlich niemand mehr lesen. Wie steht es also um die viel diskutierte Lesekultur?
Verloren geht sie nicht. So viel kann man sagen. Stattdessen findet vielmehr eine Verlagerung statt. Während gedruckte Bücher immer noch die häufigste Konsumationsart für Literatur sind, nimmt das Lesen digitaler Texte stark zu. Vielleicht kommt daher auch der Gedanke, dass keiner mehr liest. Es ist in vielen Fällen nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar, ob nun ein Buch gelesen wird, oder das Smartphone für andere Aktivitäten genutzt wird. Die reine Beobachtung von Menschen im persönlichen Umfeld sorgt somit schnell dafür, dass ein falscher Eindruck entsteht. Bücher können schon lange nicht mehr ausschließlich in klassisch gedruckter Form konsumiert werden. E-Reader, Notebooks, Smartphones und Tablets stellen neue Medien des Literaturkonsums dar. Gleichzeitig bildet das Internet einen neuen Raum für den Diskurs über Literatur. Diese Erweiterung der Lesemöglichkeiten bezieht sich nicht nur auf junge Leser*innen. Es zeichnet sich bei allen Altersgruppen ab.
Websites wie Wattpad oder Fanfiktion.de tragen weiters zur Digitalisierung der Lesekultur bei. Die größte, deutschsprachige Website zur Veröffentlichung und Konsumation von Fanfiction stellt laut eigenen Angaben über eine halbe Million Texte zur Verfügung. Zu jedem dieser Texte gibt es eine Kommentarspalte, und auf der gesamten Plattform zusätzlich noch Foren mit den verschiedensten Kategorien. Wattpad verzeichnet über 90 Millionen monatliche Nutzer. Zahlen, die dem Kulturpessimus des Verlusts der Lesekultur eindeutig widersprechen. Die Leser*innen und Autor*innen dieser Plattformen sind meist nicht in nur eine dieser beiden Kategorien einzuordnen. Sie werden besser durch den Begriff “Wreader” beschrieben, ein Kofferwort aus den beiden Begriffen “writer” und “reader”. Derartige Plattformen bieten jedem die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen. Sie ermöglichen eine “Demokratisierung” der Schreib- und Lesekultur. Es sind nicht mehr die Verlage, die bestimmen was publiziert und rezipiert werden darf. Die Masse entscheidet.
Anstatt den Untergang der Lesekultur zu beklagen, wäre somit vielmehr der Aufstieg der digitalen Lesekultur zu bejubeln. Die Digitalisierung betrifft dabei alle Bereiche des Lesens. Literatur ist digital, oder wird digitalisiert. Sie findet sich auf Fanfiction Websites, in öffentlichen Foren und in manchen Fällen sogar in den Sozialen Medien. Die Dichterin Rupi Kaur wurde durch die Veröffentlichung ihrer Gedichte auf Instagram bekannt. Der Buchhandel ist digital, nicht nur für eBooks, sondern auch klassische Bücher können im online Handel erworben werden. Durch die Digitalisierung wird der analoge Literaturbetrieb in den digitalen Literaturbetrieb aufgenommen. Auch die Rezeption von Literatur ist zunehmend digital, nicht nur aufgrund von Texten auf einem Bildschirm, sondern auch durch Hörbücher, die in digitaler Form vorliegen. Literaturdiskurs hat ebenfalls digitale Räume erobert. Kritiken werden online gepostet und diskutiert. Dabei verteilt sich dies über unzählige Plattformen, wie unter anderem Goodreads, Lovelybooks, TikTok oder Instagram. Diese Plattformen fördern den digitalen Lesediskurs, bilden Räume für das “Digital Social Reading” und ermöglichen eine Diskussion von Personen verschiedenster Länder und Kulturen. Gleichzeitig inszenieren sich immer mehr Personen in sozialen Medien als Leser*innen. Sie zeigen übergroße Stapel an (un)gelesenen Büchern, teilen Bücher in Subgenres ein und liefern ihre verbalen Buchrezensionen vor dem Hintergrund eines ästhetisch perfekt organisierten Bücherregals ab. Bei einigen Autoren sieht dies nicht anders aus. Rupi Kaur, eine Gedichtautorin aus Kanda, inszeniert sich in großen Hallen vor ihrer Leserschaft wie ein Popstar. Man könnte also sagen, wir sind im Zeitalter der Popstarautoren angekommen.
Lesen ist und bleibt eine Tätigkeit, die von vielen Menschen sehr positiv wahrgenommen wird. Daran wird auch die Digitalisierung nichts ändern. Daher ist es auch nicht sinnvoll, sich über den vermeintlichen Verlust der Lesekultur zu sorgen. Es sind lediglich andere Orte, an denen sie gesucht werden muss. Rezensionen sind heute eher auf online Plattformen, wie Lovelybooks oder Goodreads zu finden. Wer Literatur diskutieren möchte, könnte dies auf Fanfiction Websites tun. Nicht selten gibt es dort in den Kommentarspalten heftige Diskussionen. Nicht nur über die gelesene Fanfiction, sondern auch über die Werke, auf denen diese basiert. Das kann dabei von Harry Potter, über Twilight, bis hin zu Romanen von Jane Austen reichen. Wer sich also über den Verlust der Lesekultur beklagt, der weiß wohl nur nicht, wo er danach suchen muss.
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