
Der Kontrast ist eklatant. Auf der linken Seite des Bildschirms: ein amerikanischer Nachrichtenmoderator im Studio. Sein weißes Hemd und elegantes Sakko passen zu seinem gepflegten Aussehen. Rechts von ihm aber ist Wael Al Dahdouh zu sehen: und zwar live aus Gaza. Seine Miene ist ernst, sein Mikrofon altmodisch. Er trägt kein gebügeltes weißes Hemd, sondern eine dunkelblaue Schutzweste und einen Helm. Auf beiden steht das Wort „Press“ in weißen, fettgedruckten Buchstaben. Der Chef des Al-Jazeera-Büros in Gaza berichtet mit einem Team von Journalisten tagtäglich aus dem Kriegsgebiet. Währenddessen können keine anderen Sender der Welt in Gaza filmen.
Seit seiner Gründung 1996 hat sich das arabische Medium Al Jazeera von einem regionalen Fernsehsender zu einer globalen Medienmacht entwickelt. Bewundert für seinen tagesaktuellen und investigativen Journalismus, aber auch kritisch beäugt wegen seiner Verbindungen zur katarischen Führung, hatten viele Menschen Al Jazeera lange Zeit als nicht unabhängiges und deshalb parteiisches Medium eingeschätzt.
Allerdings prägt der Sender mit Büros in mehr als siebzig Ländern und einem Millionenpublikum die Nachrichtenlandschaft des 21. Jahrhunderts wie kein anderes Medium aus der arabischen Welt. Doch was steckt hinter diesem Imperium, und wie unabhängig ist es wirklich?
Al Jazeeras Aufstieg begann 1996, als der damalige Emir von Katar, Scheich Hamad bin Chalifa Al Thani, den Sender als alternatives Nachrichtenangebot zu den staatlich kontrollierten Medien der Region ins Leben rief. Schnell etablierte sich der Sender als Plattform für hitzige Debatten und kontroverse Meinungen. In einem politischen Kontext, in dem kritische Stimmen oft keinen Platz in der Medienlandschaft fanden, galt der Sender als einzigartige Innovation.
Doch die wahre Feuerprobe kam mit dem Irak-Krieg 2003. Während westliche Medien stark eingeschränkt wurden, sendete Al Jazeera ungefilterte Bilder aus dem Kriegsgebiet und erntete dafür sowohl Lob als auch Wut. Die US-Regierung warf dem Sender vor, die Inszenierung von Leid zu fördern, während arabische Zuschauer erstmals eine Perspektive sahen, die nicht von Washington oder London gefiltert war.
Noch deutlicher wurde Al Jazeeras Einfluss während des Arabischen Frühlings. Als 2011 die Proteste in Tunesien, Ägypten und Libyen ausbrachen, wurde der Sender zur zentralen Informationsquelle: und somit zum Beschleuniger der Revolutionen. Experten prägten sogar den Begriff des „Al-Jazeera-Effekts“: die These, der Sender habe nicht nur über die Ereignisse berichtet, sondern sie durch seine Reichweite erst richtig entfacht.
Heute ist Al Jazeera weit mehr als ein Nachrichtensender. Das Netzwerk umfasst zahlreiche Kanäle und Institutionen, die unterschiedlichste Zielgruppen bedienen. „Am besten wäre Al Jazeera als eine Art Matrjoschka-Puppe zu beschreiben: Einheiten innerhalb von Einheiten“, sagt der Medienentwicklungsleiter des Media for Development Department des Al-Jazeera-Media-Institute, Ahmad Abuhamad. Im Interview mit campus a erklärt der Redakteur die komplexen Systeme innerhalb des arabischen Medienimperiums.
Der arabischsprachige Hauptkanal, heute geleitet vom 42-jährigen Kommunikationswissenschaftler Ahmad Alyafei, machte vor allem durch seine schonungslose Berichterstattung aus Gaza Schlagzeilen. Wael Al Dahdouh, der Leiter des Gaza-Büros des Senders, wurde selbst zur Symbolfigur, als er live über israelische Luftangriffe berichtete, während er gleichzeitig um seine eigene Familie trauerte, die bei einem Bombenanschlag ums Leben kam.
Parallel dazu hat Al Jazeera English, der englischsprachige Sender des Netzwerks, eine globale Fangemeinde aufgebaut, während Formate wie die Investigative Unit unter Rafi Mustafa mit preisgekrönten Enthüllungen aufwarten. Auf der Website des Senders ist zu lesen: „Die Dokumentationen der Investigative Unit (I-Unit) wurden seit ihrer Gründung mit mehr als vierzig Preisen ausgezeichnet und mehr als hundertmal nominiert – inklusive vier Nominierungen für den BAFTA-Preis (Die Britische Akademie für Film- und Fernsehkunst, Anmerkung). Im Dezember 2019 kam dann der Podcast ‚Al Jazeera Investigates‘ hinzu.“
Besonders erfolgreich ist auch AJ+, die digitale Plattform, die mit innovativen Formaten junge Zuschauer anspricht und in jüngster Vergangenheit mit der Serie „It’s Bisan from Gaza and I’m still alive“ einen Emmy und einen Peabody Award gewann. Die Serie dokumentiert das Leben der jungen palästinensischen Journalistin Bisan Owda seit Beginn des Krieges in Gaza im Oktober 2023.
Doch bereits seit Jahren konzentriert sich das Medienimperium Al Jazeera nicht nur auf klassischen Journalismus. Neben den Kanälen des Senders, wie die regionalen, englischen oder arabischen Sender, die Al-Jazeera-Investigative-Unit, das Al-Jazeera-Documentary-Team oder AJ+, gibt es auch andere, vielleicht eher unerwartete Teile des Netzwerks. Darunter befinden sich das Al-Jazeera-Centre-for-Studies, das Al-Jazeera-Media-Institute, das Al-Jazeera-Centre-for-Public-Liberties-&-Human-Rights, das Al-Jazeera-Forum und sogar Partnerunternehmen wie Hotels oder Restaurants.
„Wir unterstützen kleine Medieninitiativen, die keine Finanzierung finden“, erklärt Abuhamad seine Arbeit im Media Institute. „Nicht mit Geld, sondern mit Schulungen und logistischer Hilfe.“ Diese Philosophie des Kapazitätsaufbaus durchdringt das gesamte Netzwerk, zu dem auch Thinktanks wie das Al-Jazeera-Centre-for-Studies gehören.
Dass eine Reihe von Hotels beispielsweise auch mit Al Jazeera zusammenarbeitet, ist laut Abuhamad allerdings nachvollziehbar. „Das betrifft einfach nur die Zusatzleistungen und Benefits für die Angestellten Al Jazeeras“, erklärt er.
Trotz aller Erfolge bleibt Al Jazeera umstritten. 2024 entschließ ein Ministerausschuss der Palästinensischen Autonomiebehörde die Schließung des Büros des Medienunternehmens im Westjordanland wegen des Vorwurfes, „aufrührerisches“ Material, „Fehlinformationen, Aufwiegelung und Einmischung in innere Angelegenheiten der Palästinenser“ zu verbreiten. Auch prominente Stimmen aus der arabischen Welt, wie der saudische Journalist Faisal Ibrahim Alshammeri, seien Kritiker der Berichterstattung des Medienimperiums: „Al Jazeera handelt mit dem Blut der Menschen in Gaza. Als ein palästinensischer Mann die Hamas kritisierte, gefiel das dem Reporter nicht [und er unterbrach ihn],“ behauptete laut dem Online-Medium The Media Line Alshammeri nach dem abrupten Ende einer Reportage aus Gaza, die Al Jazeera ausgestrahlt hatte.
Die Finanzierung durch den katarischen Staat wirft auch immer wieder Fragen auf: Kann ein Medium wirklich unabhängig berichten, wenn es von einer Regierung finanziert wird?
Auf diesen Kritikpunkt hat Abuhamad allerdings eine klare Antwort: „Das Vermächtnis von Al Jazeera haben Journalisten aufgebaut, nicht ihre Geldgeber. Aber auch wenn Finanzierung ein so großes Thema sein mag: Wir sollten nicht vergessen, dass dies auch das Geld des katarischen Volkes ist. Und sie sind die Empfänger unserer Berichterstattung, für sie ist unsere Arbeit wichtig“, erklärt Abuhamad. Außerdem: „Gilt diese Kritik übrigens auch für die Medienunternehmen, die das Geld anderer Staaten annehmen, wie amerikanische Medien oder die öffentlich-rechtlichen Sender westeuropäischer Länder?“
Objektivität ist ein ebenfalls umstrittenes Thema: Kritiker verweisen auf die Berichterstattung über den Gaza-Krieg, in der Al Jazeera eine klare pro-palästinensische Haltung einnimmt. „Wenn es um die Berichterstattung über die großen Ereignisse in der Welt geht, gibt es immer eine Hegemonie der Medien. Und Al Jazeera als internationale Organisation bietet dem Publikum eine andere Perspektive, die in anderen Organisationen nicht zu sehen oder zu finden ist: was als Bereicherung der weltweiten Berichterstattung gesehen werden sollte, anstatt ein Problem zu sein“, erklärt Abuhamad. „Es gibt keinen Journalisten und keine Medienorganisation, die die vollständige Realität alleine wiedergeben kann. Wenn wir also verschiedene Perspektiven einbringen, geben wir dem Thema mehr Kontext, und das sollte ein Mehrwert für die globale Informationsatmosphäre sein, anstatt etwas Negatives zu sein.“
Der Projektleiter des Media-for-Development-Teams positioniert sich also deutlich: „Diese Debatte über Neutralität mag rational sein, aber das gehört wirklich ins letzte Jahrhundert. Diese Distanz kann nicht mehr da sein, wenn man über Themen wie Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit gegen den eigenen Mitmenschen spricht. Und sie ist auch nicht mehr erwünscht.“
Dennoch bleibt Al Jazeera für viele eine unverzichtbare Stimme: gerade dort, wo andere Medien schweigen. Ob als Katalysator des Arabischen Frühlings oder als Chronist der Gaza-Krise: Der Sender hat gezeigt, dass er nicht nur berichtet, sondern Geschichte mitgestaltet. Abuhamad schlussfolgert: „Der erste Entwurf der Geschichte wird von Journalisten geschrieben, und zwar noch lange vor den Historikern. Ein großer Teil der Arbeit von Al Jazeera besteht darin, die Geschichte zu dokumentieren, insbesondere in Fällen, in denen andere Medienunternehmen vielleicht nicht dabei sein konnten… oder dabei sein wollten.“
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