
Dienstag 19 Uhr. In Simmering finden sich Anna, Anni und Alice am Esstisch ein. Die Pizzakartons stapeln sich, die Wohnung duftet nach der italienischen Spezialität. Die gratis Pepsi-Flasche, die mit jeder Bestellung kommt, steht bereit. Für das „Chaoshaus“, wie sich die Wohngemeinschaft scherzhaft bezeichnet, ist der Pizzaabend unverzichtbare Tradition. Jeden Dienstag setzen sich die Bewohnerinnen zusammen und halten ihre „Tratschstunde“ ab, in der sie die Erlebnisse des Wochenendes besprechen. Nur an Samstagen und Sonntagen sehen sie sich nicht persönlich. Die drei Burgenländerinnen fahren dann zu ihren Familien.
Seit eineinhalb Jahren leben die Studentinnen auf 80 Quadratmetern zusammen. Jede hat ein eigenes Schlafzimmer, dazu kommen die Gemeinschaftsräume rund um Küche, Wohnzimmer, Badezimmer und Toilette. Anna und Alice haben sich in der Uni während einer Vorlesung kennengelernt. Schnell haben sie Gemeinsamkeiten entdeckt und sich angefreundet. Wenig später zog Alice in das leerstehende WG-Zimmer. Aus Fremden wurden Freundinnen, die Wohnung in Simmering ist nun ein zweites Zuhause und ein gemütlicher Rückzugsort für alle drei.
Ihre Schlafzimmertüren stehen im Normalfall offen. „Obwohl wir uns jeden Tag sehen, haben wir uns abends viel zu erzählen“, berichtet Anna. Meistens nehmen ihre WG-Kolleginnen auf ihrem Bett Platz oder bleiben im Türrahmen stehen und aus einem kurzen Informationsaustausch wird ein zweistündiges Gespräch. Auch sonst gehen sie offen mit allem um: Sie teilen größtenteils Lebensmittel, einen Putzplan haben sie nicht. Haushaltsaufgaben erledigen sie, wenn sie die Zeit dafür finden.
Die jungen Frauen zählen zu den 30 Prozent der Studierenden in Wien, die in Wohngemeinschaften leben. Österreichweit entspricht dies nur knapp 10 Prozent aller Studierenden. Die Größe jener WGs kann sehr unterschiedlich sein. Die meisten entscheiden sich für Zweier- bis Vierer-WGs, allerdings gibt es auch Wohnverhältnisse mit bis zu zehn Mitbewohnern. Einer der wohl wichtigsten Gründe für diese Art des Zusammenlebens ist der finanzielle Vorteil. Allein in den vergangenen zehn Jahren stiegen die Mietkosten österreichweit um durchschnittlich 50 Prozent. Inzwischen kostet ein WG-Zimmer mindestens 300 Euro pro Monat. Durchschnittlich geben Studierende mehr als ein Drittel ihres Gesamtbudgets fürs Wohnen aus.
Das war auch ein Thema für Stella, als sie sich für das Alleinwohnen entschieden hat. In ihrer geräumigen Altbauwohnung im 5. Wiener Gemeindebezirk lebt die 20-Jährige seit Oktober 2024. Die gebürtige Burgenländerin hat monatlich etwas mehr als 1.000 Euro zur Verfügung. Neben dem Studium jobbt sie halbtags in der Gastronomie. Der Großteil ihres Gehalts geht für die Miete auf. „Mich haben die hohen Betriebstkosten überrascht“, gibt sie zu. „Aber ich nehme sie in Kauf, solange ich allein wohnen und meine Ruhe haben kann.“
Wenn Stella nach einem langen Tag in die leere Wohnung zurückkehrt, gibt es keine stundenlangen Tratscheinheiten mit Mitbewohnerinnen oder Pizzaabende. Für sie sei das meistens kein Problem. „Eigentlich fühlt es sich gut an, abends allein zu sein. Es ist tagesabhängig, meistens genieße ich es aber, nach dem Trubel in der Stadt abschalten zu können“, sagt die Blondine.
In Jogginghose auf der Couch, den Fernseher als Hintergrundgeräusch, und eine Kerze, die den Raum in gedämmtes Licht hüllt: So sehen viele ihrer Abende aus. Gefühle der Einsamkeit hat sie nur selten, denn oft hat sie Besuch. Ihre Wohnung bezeichnet die Studentin als „zentralen Treffpunkt der Freundesgruppe“. Die beigefarbene Auszieh-Couch im Wohnzimmer dient gelegentlich als Schlafplatz für ihre Freunde. Sie ist die Einzige in ihrem Bekanntenkreis, die allein lebt, die anderen wohnen entweder noch bei ihren Eltern oder in einer WG.
Stella gehört zu den 1,6 Millionen Menschen, die laut Statistik Austria im Jahr 2024 in Österreich allein gelebt haben. Die meisten sind Frauen ab 65 Jahren. Die unter 25-Jährigen bilden den geringsten Anteil mit nur zweieinhalb Prozent. Das Alleinleben wird auch in Österreich immer populärer, in den vergangenen 20 Jahren stieg der Anteil der Single-Haushalte um über drei Prozentpunkte. Auch für Studierende ist das Alleinleben in ihrer Universitätsstadt zum Trend geworden, in Wien tun das rund 38 Prozent von ihnen.
Sie wollen Unabhängigkeit, Privatsphäre und die Möglichkeit, ihr eigenes Leben zu gestalten, ohne Rücksicht auf Mitbewohner zu nehmen. Ein selbstständiges und emanzipiertes Leben stellt die Basis für ein „erwachsenes Leben“ dar. Der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung und die Flucht vor Reizüberflutungen im Alltag lassen junge Erwachsene zum Alleinleben tendieren.
Das alles ist auch Daniela wichtig. Adrett gekleidet, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, steht die Studentin in der Küche ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung in Döbling. „Ich habe mit meiner Familie in einem Haus gewohnt, das weit vom Stadtzentrum entfernt war. Ich wollte zentraler wohnen und eigenständiger sein.“
Die Wienerin hat sich eine Routine aufgebaut, durch die sie ihr Leben so gut wie möglich strukturieren will. Als Jura-Studentin ist sie oft an der Uni oder in der Bibliothek.
„Für daheim habe ich eine Putzroutine entwickelt, jeden Sonntag mache ich einen Grundputz, dazu sauge ich alle zwei Tage die Wohnung durch. Ordnung ist mir wichtig.“ Das ist einer der Gründe, wieso sie sich gegen eine WG entschieden hat. Sich selbst in ihren eigenen Intervallen zu organisieren, sei ihr ein Anliegen. Der Auszug aus dem Elternhaus lehre ihrer Meinung nach vielen die Selbstständigkeit. Daniela sagt dazu: „Das Alleinleben hat mich zu 100 Prozent selbstständiger gemacht. Es ist auf jeden Fall die beste Art zu lernen, eigenständig zu funktionieren.“
Selbstständigkeit setzt auch Lena an die erste Stelle. Die junge Oberösterreicherin lebt mit zwei Bekannten aus ihrem Heimatbezirk in einer WG im 15. Bezirk in Wien. Auch WG-Leben mache selbständig, meint sie, mit dem „Hotel Mama“ sei Schluss. Ordnung ist sowohl ihr als auch ihren WG-Mitbewohnern ein Anliegen. Das ist bereits im Eingangsbereich erkennbar: Die Jacken hängen ordentlich am Kleiderständer, die Schuhe stehen sorgfältig in einer Reihe im Regal. Die weißen Vorzimmerfliesen sind blitzblank. „Ich habe vielleicht einen Sauberkeitstick, aber die anderen beiden schätzen die Ordnung bei uns.“
Das Thema Sauberkeit sorgte anfangs für Probleme. Vor allem ihre männlichen Mitbewohner hätten zunächst „keinen Finger gerührt“. Ihr verbindlicher Putzplan für alle drei habe das Problem gelöst.
Sauberkeit ist in den meisten Wohngemeinschaften ein heikles Thema. Differenzen in den Vorstellungen über Sauberkeit und Ordnung führen statistisch betrachtet zu den meisten Streitigkeiten zwischen Mitbewohnern. Vor allem mangelnde Kommunikation und Uneinigkeiten bei der Aufteilung von haushaltsbezogenen Tätigkeiten sorgen für angespannte Stimmung.
Das hat das „Chaoshaus“ trotz der lockeren Aufteilung, die es für sich selbst festgelegt hat, ebenfalls eingesehen. Es komme immer öfters vor, dass Alice oder Anna das Putzen übernehmen und Anni dies als selbstverständlich erachte. Letztere verpasst es dadurch, leer gewordene Putzmittel, Klopapier oder die geteilten Lebensmittel zu ersetzen. „Es wird schon besser, wir haben jetzt ein soziales Experiment gestartet, um zu schauen, wie lange es dauert, bis sie Aufgaben von sich aus übernimmt“, schmunzelt Alice. Sie habe bereits in ihrem Elternhaus Selbstständigkeit vorgelebt bekommen versuche nun, in der WG Ordnung zu halten. „Wir sind drei Mädels, es liegen Tonnen an Haaren herum. Hin und wieder bricht eben auch bei uns das Chaos aus.“ Dies zeigt sich vor allem im Badezimmer, wo sich Schminksachen stapeln, Haarsträhnen den Boden bedecken und Haarstylinggeräte den Stauraum füllen.
Morgens kann es bei den Burgenländerinnen hektisch werden, besonders, wenn alle drei zu einer ähnlichen Zeit die Wohnung verlassen müssen. Bei Lena ist genau das Gegenteil der Fall. „Anfangs war es abends chaotisch, wenn alle gleichzeitig ins Bad wollten, aber das hat sich nach einer Weile eingependelt“, meint die brünette Brillenträgerin.
Etwas ruhiger geht es bei Stella und Daniela zu. Die beiden Studentinnen haben sowohl morgens als auch abends keinen Druck, das Badezimmer so schnell wie möglich wieder zu räumen. „Ich kann aufstehen, wann ich möchte, ich kann duschen, wann ich möchte“, sagt sie. Die Wienerin Daniela kann das nur unterstützen: „Ich kann so spät wie ich will nach Hause kommen und trotzdem duschen, ohne jemanden zu stören.“
Obwohl die jungen Frauen sich alle in individuellen und unterschiedlichen Lebenssituationen befinden, zeigt sich, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben: Ihre Eltern unterstützen sie weiterhin finanziell. Obwohl die meisten von ihnen neben dem Studium arbeiten, gibt es für sie Unterstützung bei den Kosten. Etwas, das früher selten war: Robert ein älterer Nachbar der „Chaoshaus“-WG erinnert sich noch gut an sein WG-Leben in seinen Zwanzigern. „Wer ausziehen wollte, musste sich selbst finanzieren. Meine Eltern hatten nicht genug Geld.“ Bei der Auswahl des Zimmers ging es nicht um Lage oder Mitbewohner, sondern um den Preis.
Jetzt, vierzig Jahre später, lebt er mit seiner Frau in einer Dreizimmerwohnung im 11. Bezirk. Die Wohnung ist, mit liebevollen Details ausgestattet. Fotos zieren die Wände, bunte Teppiche geben den Zimmern einen individuellen Touch. „Auf Dekoration haben wir früher keinen Wert gelegt“, erinnert er sich an seine erste Studentenwohnung. „Wir waren vier junge Männer, die im Alltag kaum miteinander zu tun hatten. Vier Schlafzimmer, kein Wohnzimmer und die Küche haben wir kaum benützt.“
Das sieht bei den Mädchen heute anders aus. Sie alle versuchen, möglichst oft selbst zu kochen. Besonders Lena legt Wert darauf. Die HLW-Absolventin geht mit ihrem Budget verantwortungsbewusst um und kauft nur das Nötigste. Daniela hingegen hat schnell bemerkt, dass das Jura-Studium viel Zeit kostet, weshalb sie wochentags kaum kocht. Dafür testet sie am Wochenende neue Rezepte.
Sie alle, WG oder Einzelhaushalt, haben das Gefühl, in ihrem neuen Zuhause angekommen zu sein. Bei der Wohnungssuche hätten sie Glück gehabt. „Der Vermieter hat mir nach der Besichtigung gesagt, wir bekämen die Wohnung nur mit mir als Hauptmieterin. Da war wohl ein Sympathieaspekt“, erinnert sich Lena.
Laut einer Online-Umfrage von Immoscout bevorzugen Vermieter Paare, Singles, oder Familien. Studierende sind nur in 11 Prozent der Fälle gern gesehen, Wohngemeinschaften nur in knapp 4 Prozent. 60 Prozent sprechen sich klar dagegen aus, an eine WG zu vermieten. Oft zählt aber der erste Eindruck, weshalb sowohl Lenas Wohngemeinschaft als auch das „Chaoshaus“ schnell fündig wurden.
Single-Haushalte oder Wohngemeinschaft, letztendlich ist die Entscheidung typabhängig. Sicher ist: Beides kann erfüllend oder schrecklich sein.
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