
Ralph Gleis, Direktor der Albertina in Wien, begegnet tagtäglich Meisterwerken. Doch welche Werke lassen ihn persönlich nicht mehr los? Welche Bilder berühren ihn über alle kunsthistorischen Maßstäbe hinaus?
In einer Zeit mit vielen Kunstschauen, die dem Mainstream folgen, eröffnet Gleis einen intimen Blick auf Werke, die ihn tief geprägt haben, quer durch Epochen, Stile und Ausdrucksformen. Die folgende Auswahl zeigt einen Querschnitt durch die Kunstgeschichte und spiegelt zugleich seine eigene Haltung als Kurator, Forscher und Museumsleiter wider.
Albrecht Dürer, Feldhase, 1502, Aquarell und Deckfarben, mit Deckweiß gehöht, 25 × 22,5 cm (Foto: ALBERTINA, Wien)
Das wohl bekannteste Werk der Albertina besticht durch außergewöhnlichen Naturalismus. Albrecht Dürer hält mit meisterhafter Präzision jedes einzelne Haar des flauschigen, schimmernden Fells eines Feldhasen fest. Der Hase verharrt ruhig mit aufgerichteten Ohren und ausgestreckten Pfoten. Beim Anblick entsteht beinahe der Impuls, dem Tier über das Fell zu streichen. Dürer verfolgt diesen unglaublichen Realismus mit akribischer Genauigkeit bis ins kleinste Detail. Selbst im Auge des Tieres spiegelt sich ein Fensterkreuz. Der Feldhase demonstriert zeichnerisches Können in höchster Vollendung und fordert unweigerlich zum genauen Hinschauen heraus.
Martha Jungwirth hat in den vergangenen Jahren endlich internationale Anerkennung für ihr herausragendes Schaffen gewonnen. Ihr innovativer und kraftvoller Umgang mit Farbe fällt sofort auf. Die Farbe legt sich scheinbar mühelos über den Bildgrund und scheint dabei fast zu schweben. Der schnelle, gestische Pinselstrich bringt spürbare Dynamik in die Komposition. Eine intensive, unverwechselbare Farbpalette entsteht durch spontanen Gefühlsausdruck. Diese Malweise führt zu Werken von großer emotionaler Dichte und spricht die Betrachtenden in direkter Unmittelbarkeit an. Martha Jungwirth verkörpert die Grande Dame der abstrakten Malerei in Österreich.
Egon Schiele, Grimassierendes Aktselbstbildnis, 1910, Bleistift, Kohle, Pinsel, Deckfarben mit proteinhaltigen Bindemitteln, Deckweiß auf Packpapier, 55,8 × 36,7 cm (Foto: ALBERTINA, Wien)
Egon Schiele bricht mit seinen revolutionären Körperbildern radikal alle traditionellen Bildkonventionen. Nackt, mit verzerrten Gesichtszügen und in exzentrischer, ungewöhnlicher Pose zeigt er sich mit überdehnten Gliedmaßen und ausgemergeltem Körper. Der knochige, spannungsgeladene Leib wirkt verletzlich und von innerer Unruhe durchdrungen. Mit schonungsloser Offenheit und ohne Idealisierung erforscht Schiele tiefste psychologische und existenzielle Dimensionen des Menschseins. Seine Werke zählen zu den bedeutendsten und eindrucksvollsten künstlerischen Beiträgen der Jahrhundertwende.
Raffael, Madonna mit dem Stieglitz, 1506/07, Öl auf Holz, 107 × 77,2 cm (Foto: Galleria degli Uffizi, Florenz)
Raffael, neben Michelangelo und Leonardo einer der bedeutendsten Vertreter der italienischen Renaissance, zeigt einen eleganten, harmonischen Stil. Besonders seine Madonnenbilder veranschaulichen diese Qualität. Sie verbinden in der Renaissance menschliche und göttliche Schönheit. Klar strukturierte und ausgewogene Bildaufbauten prägen diese Werke. Die berühmte Darstellung der Madonna mit dem Stieglitz in den Uffizien nutzt die als ideal empfundene Dreieckskomposition. Die Gottesmutter erscheint in inniger Harmonie mit dem Jesuskind und Johannes dem Täufer.
König Chales und Camilla beim Besuch der Royal Collection: Artemisia Gentileschi, Selbstporträt als Allegorie der Malerei, 1638/39, Öl auf Leinwand, 98,6 × 75,2 cm, Royal Collection Trust, His Majesty King Charles III (Foto: Dominic Lipinski, AFP)
Im 17. Jahrhundert treten nur wenige Frauen als Künstlerinnen hervor. Artemisia Gentileschi gehört heute zu den bekanntesten unter ihnen. In einer Zeit ohne gesellschaftliche Anerkennung für Künstlerinnen zeigt sie sich selbstbewusst als Malerin. Mit dem Selbstporträt als Allegorie der Malerei stellt sie sich auf eine Stufe mit ihren männlichen Kollegen. In ihrer Rolle vor der Staffelei setzt sie ein bedeutendes Zeichen. Ihr Beispiel inspiriert nachfolgende Generationen von Künstlerinnen.
Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1808-1810, Öl auf Leinwand, 110 x 171,5 cm (Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie)
Heinrich von Kleist schreibt 1810 über Caspar David Friedrichs Mönch am Meer „So ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“ Dieses Zitat bringt treffend zum Ausdruck, wie radikal Friedrichs Werk auf seine Zeitgenossen wirkt. Die nahezu unendliche Weite des Horizonts steht im Kontrast zur winzig erscheinenden Figur des Mönchs. Dieser erstarrt im Anblick der erhabenen Natur. Friedrich gliedert die drastisch reduzierte Darstellung von Himmel, Meer und Strand in drei beinahe abstrahierte Farbstreifen. Mit dieser Herangehensweise greift er in seinem modernen Zugang Tendenzen der späteren Abstraktion vorweg und setzt einen Meilenstein in der Landschaftsmalerei des frühen 19. Jahrhunderts.
Yayoi Kusama, Infinity Mirror Rooms, 2009, Holz, Spiegel, Plastik, Acryl, LEDs, Aluminium, Collection of the Artist (Foto: Han Yan Xinhua, Eyevine)
Spiegel erzeugen in dieser immersiven Installation ein Meer funkelnder, strahlender Lichter. Die Punkte leuchten hell im Dunkel eines scheinbar unendlichen Raumes. Die Betrachtenden treten in direkten Kontakt mit dem Werk. Yayoi Kusama verwandelt Kunst in ein sinnliches Erlebnis. Ihre Räume hinterfragen die Grenzen der Wahrnehmung und lassen die Vorstellung von Unendlichkeit auf neue Weise erleben.
El Greco, Die Vision des Hl. Johannes, 1608-14, Öl auf Leinwand, 222,3 × 193 cm (Foto: Metropolitan Museum of Art, New York)
Obwohl dieses Werk im frühen 17. Jahrhundert entsteht, erinnert sein Stil an moderne Malerei. El Greco wirkt wie ein Zeitreisender. Seine expressive Darstellungsweise des menschlichen Körpers zeigt radikale Fortschrittlichkeit. Künstler des 20. Jahrhunderts wie Pablo Picasso lassen sich davon inspirieren. Für sein Werk „Les Demoiselles d’Avignon“ setzt sich Picasso intensiv mit El Grecos Figuren auseinander. Diese Verbindung unterstreicht El Grecos Bedeutung als Vorreiter der Moderne.
Leon Spilliaert, Selbstbildnis mit rotem Zeichenstift, 1908, Tusche, Gouache und Pastellkreide auf Papier, 85 × 69 cm (Foto: Mu.ZEE, Ostende)
Spilliaert malt innere Zustände, indem er einen Blick in seine Seele gewährt. Viele seiner Selbstporträts zeigen psychologische Momentaufnahmen. Diese Bilder spiegeln seine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Der Zeitgeist, die Existenzphilosophie und insbesondere Friedrich Nietzsche beeinflussen seine Arbeit stark. Spilliaert bringt psychologische Tiefe und persönliche Reflexion in beeindruckender Weise ins Bild. Seine Werke nehmen ein existenzielles Thema auf, das auch in der heutigen Selfie-Kultur weiterlebt.
Vincent van Gogh, Sternennacht, 1889, Öl auf Leinwand, 73,7 × 92,1 cm (Foto: Museum of Modern Art, New York)
Vincent van Goghs Sternennacht zählt zu den bekanntesten Werken der Kunstgeschichte. Fließende Formen, ein schneller, ausdrucksstarker Pinselstrich und gesteigerter Kolorismus verdichten sich zu einer wahren Farbexplosion. Van Gogh zeigt seinen inneren Eindruck der Welt. Er malt, was er sieht und fühlt. Dieser persönliche Zugang zur Wirklichkeit nimmt Entwicklungen der Moderne vorweg. Seine emotional aufgeladene Bildsprache prägt nachfolgende Künstlergenerationen auf nachhaltige Weise. Nur wenigen gelingt es, einen solchen Nachhall zu erzeugen.
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