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„Atomkrieg ist eine Tatsachenbehauptung“

EXKLUSIV. Er gilt als Schlüsselfigur der russischen Propaganda in Europa und soll Europäer als Zuwanderer nach Russland anwerben. Der österreichische IT-Unternehmer Martin Held ist ins Blickfeld von Behörden und Medien geraten, im Zusammenhang angeblich gekaufter Influencer und Verbreitung von Meldungen des sanktionierten russischen Propagandamediums RT (vormals Russia Today) in ganz Europa. campus a traf ihn in Moskau zum Interview.
Bernadette Krassay  •  17. Juni 2025 CvD    Sterne  574
Martin Held spricht sich in Russland offen gegen den Krieg aus. Hält Wladimir Putin schützend seine Hand über ihn? (Foto: Stephan Krug)
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Ein Fädenzieher im Schatten des hybriden Krieges Wladimir Putins gegen Europa? Nichts an dem 52-Jährigen, der uns in seinem Büro in Moskau empfängt, entspricht den damit verbundenen Klischees. Martin Held tritt zuvorkommend, wortgewandt und ungezwungen auf. Ein gutmütiger Helfer, der weniger wie der Chef seiner vielen jungen Mitarbeiter, sondern vielmehr wie ihr väterlicher Mentor wirkt.

Doch Medien wie tageschau.det-onlineDer Standard oder die exilrussischen Plattform iStories, der österreichische Regierungsinsider und Buchautor Gerald Fleischmann und die auf die Analyse von Desinformation spezialisierten Plattform Osavul zeichnen ein anderes Bild von ihm. Der gebürtige Oberösterreicher und russisch-österreichische Doppelstaatsbürger steht demnach im hybriden Krieg Russlands gegen Europa auf der Seite Russlands und arbeitet mit an der Verbreitung von Desinformation. Er nützt dabei Mittel, die ihm als IT-Unternehmer zur Verfügung stehen. 

Dürfen wir jemanden wie ihn überhaupt interviewen? Wir vom jungen Medium campus a haben diese Frage lange diskutiert. Bedienen wir russische Narrative, wenn wir ihn zu Wort kommen lassen? Wird er unser Interview benutzen, um sein mögliches Ziel der Desinformation zu erreichen? Würden wir ein Interview mit Wladimir Putin ablehnen, wenn wir eins bekämen, bei dem die gleichen Bedenken bestünden? Würde irgendein Medium ein Interview mit Putin ablehnen? 

Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass keine Sache der Welt besser davon wird, wenn jemand, der daran beteiligt ist, keine Stimme hat. Etwas, das Martin Held so ähnlich sieht, wie seine Antwort auf unsere erste Frage nahelegt.

Schon die Anreise zeigte uns als junger Redaktion, wie schwer es sein kann, diesem Grundsatz in einer Situation wie dieser zu folgen. Aufgrund der Sanktionen war es uns verboten, für die Video-Dokumentation des Treffens Kamera-Equipment mitzunehmen. Wir mussten deshalb teilweise das von Held angebotene Equipment nutzen.

campus a: Herr Held, warum geben Sie uns dieses Interview?

Martin Held: Weil alles besser funktioniert, wenn Menschen miteinander reden. Auch wenn das riskant sein kann. Vielleicht denken Sie ja auch in Europa so: Mit denen zu reden ist, als würden wir gutheißen, was sie tun. Diese Haltung ist verständlich, aber am Ende führt sie zu dem, was wir gerade sehen.

Eins Ihrer Geschäftsmodelle, das Sie offenbar mit Butina betreiben, besteht darin, Europäer über die Webseite für die Einwanderung anzuwerben.

Das ist kein Geschäftsmodell und wir werben niemanden an. Wenn jemand nach Russland kommen will, muss er diese Entscheidung selbst treffen. Wir betreiben bloß Informationskanäle wie Willkommen in Russland. Alles andere fände ich unseriös. 

Welche Informationen geben Sie?

Wir drehen durchaus subjektive Videos über unser Leben in Russland und zeigen, in welche Restaurants oder Bars wir gehen. Dann tauchen Fragen auf. Was kostet eine Wohnung? Finde ich einen Job? Wie ist das mit der Krankenversicherung? Wir empfehlen Anwaltsbüros für rechtliche Fragen und beraten beim Reisen. Wie komme ich an ein Visum? Wie buche ich einen Flug? Potenzielle Zuwanderer müssen das Land ja zuerst sehen.

In Russland schlagen ukrainische Drohnen ein. Zeigen Sie das auch?

Nach Deutschland zu ziehen ist auch nicht ganz ungefährlich. Dort sterben etwa 10.000 bis 20.000 Menschen jährlich an Krankenhausinfektionen. Nur Friede, Freude, Eierkuchen gibt es nirgends. Wer hierher ziehen will, weiß ganz genau, dass kriegsbedingte Risiken in Russland gering sind. 

campus a Chefredakteurin Bernadette Krassay: Viele Hürden auf dem Weg zum Exklusivinterview mit Martin Held in einer Anwaltskanzlei in Moskau. (Foto: Stephan Krug)

Auch auf Ihrer Website Willkommen in Russland ist viel vom russischen Wohlstand die Rede. Weshalb schicken dann so viele vermögende Russen wie auch Sie selbst ihre Kinder in Europa zur Schule? Selbst Putin und Außenminister Lawrow tun das. 

Ich kenne auch viele Amerikaner, die das tun. Es geht ja nicht nur um Schulbildung, sondern um Lebenserfahrung. Die wollen wohlhabende Menschen ihren Kindern bieten, und in Russland sind eben viele wohlhabend. Zudem kamen meine Kinder in Österreich zur Welt und sind österreichische Staatsbürger, da ist eine Ausbildung in Österreich doch naheliegend?

Wie finanzieren Sie Willkommen in Russland?

Es ist eine NGO. Als Russlands Präsident entschied, die Einwanderung für Menschen aus dem Westen zu vereinfachen, wollte Maria Butina Hindernisse wie Bürokratie, sprachliche Barrieren, schulische Probleme und so weiter beseitigen. Gemeinsam haben wir uns gefragt, wie wir helfen können. 

Jemand muss auch für eine NGO bezahlen.

NGOs sind in Russland an Transparenzauflagen gebunden. Sie können sich unsere Umsätze im Internet ansehen.

Wovon leben Sie dann?

Ich hatte eine Firma namens VPN TESTER, ein Vergleichsportal für Virtual Private Networks mit einer Million User pro Monat. Dafür bin ich viel um die Welt gereist. Eines Tages habe ich meine Frau, eine Russin, gefragt, warum wir meine unternehmerischen Tätigkeiten nicht einfach hierher verlegen. Hier bekam ich für 2.500 Euro monatlich fünf Mitarbeiter. Nach einem Jahr hatte ich 25, nach zwei 45. Ich bin hier nun seit acht Jahren tätig und seit drei Jahren lebe ich hier. 

Eines Ihrer Geschäftsmodelle als IT-Unternehmer scheint darin zu bestehen, mit russischer Desinformation den europäischen Zusammenhalt zu unterwandern. Sie gelten in mehreren Medienberichten als eine Art Fädenzieher der hybriden Kriegsführung Russlands gegen Europa.

Das ist Unsinn. Niemand hat mich je um eine Stellungnahme dazu gebeten. Ich finde das nicht besonders seriös. Solche einseitigen, falschen Berichte sind auch auf ganz persönlicher Ebene gefährlich für mich.

Wie meinen Sie das?

Nach einem Bericht der Tageszeitung Der Standard im März habe ich in Österreich einen Eispickel in der Windschutzscheibe meines Autos vorgefunden. Tatsächlich mache ich sehr einfache Geschäfte. Eine meiner Firmen hilft beim IT-Outsourcing und stellt externes Personal dafür bereit. Die zweite beschäftigt sich mit KI-Anwendungen. Hauptgeschäftsmodell ist Video-Dubbing. Wir ersetzen die Originaltonspur durch neue Sprachaufnahmen in anderen Sprachen. 

Was zu den Vorwürfen passt, sie würden die Informationen des sanktionierten Senders Russia Today in ganz Europa und in allen Landessprachen verbreiten. Darauf weisen auch Berichte der unabhängigen Plattform Osavul hin.

Was ist Osavul? 

Osavul analysiert Informationsmanipulation und Desinformation und arbeitet, finanziert durch deutsche und ukrainischen Risikokapitalfonds, unter anderem mit der EU-Kommission, der NATO, der ukrainischen Regierung und privaten Unternehmen zusammen.

Was an dieser Plattform ist dann unabhängig? Aber lassen wir das beiseite. Ich kenne zwei Leute, die bei Russia Today arbeiten. Ab und zu schreibe ich mit ihnen, wenn ich etwas Persönliches brauche, ich bekomme aber keine Aufträge von dort. Warum sollte ich denen also helfen?

Laut der Tageszeitung Der Standard und dem russischen Exilmedium iStories liegen Kontoauszüge vor, denen zufolge Ihre russische Firma Fancy Nerd 45 Millionen Rubel  (rund 500.000 Euro, Anmerkung) vom staatlichen russischen TV-Unternehmen Novosti erhalten hat. Zu Novosti gehört auch Russia Today.

Das entbehrt jeder Grundlage. 

Nach der ersten Zahlung sollen aus der gleichen Quelle monatlich 1,7 Millionen Rubel und ab 2024 zwei Millionen Rubel an Ihre Firmen geflossen sein, berichten Der Standard und iStories.

Auch das entbehrt jeder Grundlage. 

Woher kommen dann die Kontoauszüge?

So etwas lässt sich heute mit wenigen Tastendrücken fälschen.

Wer könnte ein Interesse daran haben, so etwas zu fälschen?

Das weiß ich nicht.

Am Briefkasten Ihres Hauses in Niederösterreich stand vor kurzem noch der Name „Fancy Nerds“. 

Seit Kriegsbeginn gibt es keinerlei Geschäftsbeziehungen oder Geldflüsse zwischen der österreichischen Firma mit diesem Namen und Russland.

Auf einer Ihren Unternehmen zuordenbaren deutschsprachigen Website hieß es laut Medienberichten 2022 sinngemäß: Dass die EU russische TV-Kanäle wie Russia Today sperrt, behindert eine unabhängige Meinungsbildung. Ganz offen präsentierte die Website eine Lösung: Wir streamen für Euch kostenlos viele der gesperrten TV-Kanäle, hieß es da.

Ja, früher haben wir auf einer unserer Webseiten gezielt Schlagwörter wie dieses zu Werbezwecken eingesetzt, vor allem zur Bewerbung von VPN-Diensten. Es gab zahlreiche Anleitungen, zum Beispiel: „Wie kann man deutsche TV-Sender im Ausland sehen?“ Besonders gefragt waren Tipps für Österreicher, etwa wie man im Urlaub die Formel 1 mit ORF-Kommentar oder Fußballspiele mit österreichischer Beteiligung sehen kann, wenn die im Ausland gesperrt waren. Das selbe galt für heimische Fussball-Länderspiele, die im Ausland oft nicht übertragen wurden. Diese Artikel waren auf Google-Suchanfragen optimiert, um Sichtbarkeit zu erzeugen. Bis Frühjahr 2022 war das ein fester Bestandteil unseres Geschäftsmodells, inklusive VPN-Vergleichen mit Provisionsmodellen. Wir haben Anbieter etwa in Artikeln wie „Beste VPNs für ARD/ZDF im Ausland“ beworben, oft in mehreren Sprachen.

Warum sind diese Inhalte dann auf einmal verschwunden? 

Ab 2022 haben wir alle Anleitungen zu russischen Inhalten aus rechtlichen Gründen gelöscht und den ganzen Bereich rund um VPN-Vergleiche eingestellt. Auch Google begann, Russland-bezogene Inhalte zu blockieren. Wir wollten nicht riskieren, dadurch die gesamten Zugriffe zu verlieren. Seitdem erscheinen kaum noch neue Beiträge. Die alten sind meist technisch überholt. Eine einzige Person betreut die verbliebenen Inhalte, sie spricht kein Deutsch und nutzt Übersetzungstools. Auch VPN-Dienste bewerben wir nicht mehr. Die Entscheidung war klar und bewusst. Ich hatte aber spürbare finanzielle Folgen. Einige Mitarbeitende mussten deshalb gehen.

In ihrem Firmengeflecht gibt es nach wie vor Internetdomains, über die Inhalte von Russia Today abrufbar sind. 

„Firmengeflecht“ klingt dramatischer, als es ist. Tatsächlich geht es um drei Firmen in verschiedenen Bereichen, teils gegründet, um legale Steuervorteile für bestimmte IT-Unternehmen in Russland zu nutzen. Die Struktur hat rein praktische Gründe. Zur Einordnung: Wir verwalten mehr als tausend Domains, viele davon stammen aus früheren Projekten. Einige werden noch für Tests, Videoplattformen oder Marketing genutzt. Die meisten Domains registrieren wir selbst, zur einfacheren Verwaltung. Den Überblick über alle habe ich längst verloren, aber das ist auch nicht mehr unser Kerngeschäft. In vielen Projekten sind wir nur als technische Dienstleister eingebunden. 

Und den Überblick über die Inhalte?

Alles, was in der EU verboten ist, sollte für EU-Bürger technisch gesperrt sein. Solche Geoblockaden setzen auch große Plattformen wie YouTube oder Facebook ein. Natürlich ist das technisch nicht immer zu hundert Prozent zuverlässig. Wenn wir Hinweise auf nicht gesperrte Inhalte bekommen, sperren wir den Zugriff selbstverständlich, so wie wir es immer gehandhabt haben.

Laut Osavul verbreiten Ihnen zuordenbare Telegram-Gruppen Links zu Spiegel-Domains von Russia Today. (Spiegel-Domains sind Internetadressen, die inhaltlich identische Kopien einer Original-Website anzeigen und häufig zur Umgehung von Zensur zum Einsatz kommen, Anmerkung). Außerdem ordnet Osavul die Webseite loobloo.tv, die Russia Today-Inhalte live überträgt, als eine von vier ähnlichen Seiten Ihrem Unternehmen Fancys Nerds in Zusammenhang. 

Wir betreiben keine Telegram-Gruppen, die gezielt RT-Links verbreiten. Es gibt nur eine Gruppe für Einwanderer in Russland, betreut von zwei freiwilligen Helfern. Dort geht es um Alltagsthemen und Stammtische. Außerdem gibt es eine zweite Gruppe zum Thema VPN-Nutzung. Die betreuen wir seit Anfang 2022 nicht mehr. Sie läuft im Prinzip von allein, mit rein automatischer Spam-Moderation. Was dort geteilt wird, liegt in der Verantwortung der Nutzer. Bei Verstößen greift Telegram selbst oder automatische Filter. Ob irgendwo anders ähnliche Gruppen existieren, kann ich nicht sagen.  

Dass Sie oder Ihre Firmen gezielt RT-Inhalte verbreiten, ist bei Experten weitgehend unbestritten.

Dieser Vorwurf ist absurd. Und ehrlich: Es wäre auch völlig sinnlos. Solche Kanäle werden in der EU längst blockiert. Wer gesperrt wird, verliert seine Reichweite, und neue Kanäle von Dritten entstehen täglich. Nutzer wechseln sofort weiter. Der alte Kanal ist dann vergessen. Google blockiert solche Inhalte heute systematisch. Selbst wenn irgendwo noch etwas online ist, man findet es nicht mehr. Jeder, der mit SEO zu tun hat, weiß das. Was wirklich funktioniert, ist Offenheit. Wer ehrlich kommuniziert, wird gehört. Wer sich versteckt, verliert. Das gilt für Russland, die Ukraine, aber auch für die EU. Soziale Medien leben von Transparenz, nicht von versteckter Steuerung. Ich weiß, das klingt unbequem. Aber der Vorwurf ergibt für mich schlicht keinen Sinn. 

Die Analyse Ihrer Projekte durch Osavul ist rein KI-gesteuert, technisch basiert und die Vorwürfe wirken sehr rational.  

Ja, Sie haben Osavul und ukrainische Risikokapitalfonds, die das Projekt unterstützen erwähnt. Aus genau diesen Strukturen wird zum Beispiel auch Mirotworez unterstützt.

Eine Plattform, die Feinde der Ukraine öffentlich auflistet.  

Darauf stehen Bundestagsabgeordnete und ein Ex-Bundeskanzler. Diese Liste wird teils sogar offiziell unterstützt. Ich halte das für hochproblematisch. Solche Projekte vermischen Fakten mit unbelegten Behauptungen und verzerren die Realität. Egal ob Propaganda aus Russland, der Ukraine oder der EU: Man sollte sie kritisch hinterfragen. Denn so etwas bleibt nicht ohne Folgen.

Wie genau finanziert sich ihr Telegram-Kanal “Stimme aus Russland”, in dem Sie russische Propaganda in deutscher Sprache verbreiten?

Den betreibe ich privat. Ursprünglich wollte ich dort die russische Sichtweise im Westen aufzeigen, inzwischen fehlt mir jedoch die Zeit, oft gibt es monatelang keine neuen Beiträge von mir. Der Kanal hat weniger als tausend aktive Nutzer. Es gibt also keine Finanzierung und auch keinen Bedarf dafür. 

Sie haben die deutsch-russische Influencerin Alina Lipp bezahlt. Von November 2023 bis Jänner 2024 soll Ihre Firma “Fancy Nerds” Lipp insgesamt umgerechnet rund 6.000 Euro als “Gehalt” überwiesen haben. Lipp hat das bestätigt.

Wenn ich ein Werbevideo für ein Hotel drehe und jemandem wie Alina Lipp Geld dafür gebe, bin ich also schon ein Fädenzieher der hybriden Kriegsführung? Ich glaube nicht, dass die genannte Summe stimmt, ich kann sie jedenfalls nicht nachvollziehen. Sie wurde dazu in einem Telefonat befragt, hat aber meines Wissens keine Beträge bestätigt. Als sie bemerkte, dass der anonyme Anrufer sie bewusst getäuscht hat, um Aussagen zu provozieren, hat sie das Gespräch selbst beendet.

Lipp hat ganz klar russische Narrative bedient.

Ich kenne ihren Kanal kaum und habe sie tatsächlich nicht als Influencerin bezahlt. Sie hat als Freelancerin banale Werbefilme für russische Kunden gedreht und meistens war sie dabei hinter der Kamera.

Die Europäische Union hat Lipp wegen destabilisierenden Aktivitäten sanktioniert. 

Ich weiß, dass Alina ein guter Mensch ist, mit ihren Einstellungen und allem. Sie als kriminell hinzustellen, ohne sie anzuhören, halte ich für bedenklich.

Lipp hat erwiesenermaßen Falschinformationen über den Ukrainekrieg verbreitet.

Ich sehe Alina nicht als Journalistin, die dem Anspruch gerecht werden muss, immer die Wahrheit recherchiert zu haben. Sie hat sich geirrt. So etwas kann vorkommen.

Welche Influencer und Blogger hatten oder haben Sie außer Lipp unter Vertrag?

Ich kenne viele Blogger, berufsbedingt oder weil ich ihnen folge. Manche lade ich ein und sie kommen gerne, weil ich Equipment habe und Möglichkeiten, die sie nicht haben. Von ihnen leben aber nur vier oder fünf in Deutschland. Die meisten leben hier in Moskau. Wir sind eine Community von Ausländern. Ich habe keinen Einfluss auf diese Leute.

Die Sanktionierung Lipps war da wohl auch abschreckend.

Ich halte es überhaupt für bedenklich, wenn der Westen Menschen aus dem Westen ohne Gerichtsverfahren sanktioniert. Mit Alina Lipp darf niemand mehr Geschäfte machen, ihre Vermögenswerte sind eingefroren, sie bekommt kein Bankkonto mehr und kann keine Miete bezahlen. Aus einer bestimmten Perspektive wirkt es so: Sie wurde bemerkt, öffentlich angeklagt, ohne Anhörung verurteilt und dem schon vorher feststehenden Strafmaß zugeführt. Das ist lebenslange Ächtung. Früher hätte man so etwas Inquisition genannt. Vielen ist gar nicht bewusst, wie sehr sich solche Mechanismen vom Prinzip eines Rechtsstaats entfernen. 

Lipp hat Medien gegenüber auch erklärt, sie würde die Sanktionen gegen sie umgehen, indem ihre Spender an Sie bezahlen, und Sie das Geld an sie weiterleiten.

Ein derartiger Vorgang hat definitiv nie stattgefunden. 

Solche Sanktionen sind immer noch leichte Strafen im Vergleich zu dem, was Andersdenkenden in Russland zustoßen kann. 

Darüber gibt es in Europa viele Missverständnisse. Ich zum Beispiel lebe hier in Russland und sage ganz offen, dass ich den Krieg gegen die Ukraine schrecklich finde, weil da jeden Tag Menschen sterben. Nach europäischem Verständnis müsste das gefährlich für mich sein. Was passiert mir? Nichts.

Hält Putin seine schützende Hand über Sie, weil solche Positionen bei der Zielgruppe potenzieller Zuwanderer besser ankommen?

In Russland ist vieles anders, als es westliche Medien darstellen. Ich bin mit meiner Meinung über den Krieg nicht allein und viele reden genauso offen darüber wie ich.

In Moskau scheinen allerdings nur Wenige über den Krieg zu reden.

Das liegt nicht an Verboten, sondern weil die Menschen allgemein wenig über Politik reden. Sie konzentrieren sich auf ihr Leben. 2022 war das anders, wegen der vielen Zuwanderer aus der Ukraine. Die sind nicht in den Westen gegangen, sondern haben hier einen Platz in der Gesellschaft gefunden. Einige von ihnen hatten noch Wohnungen in Donetsk oder Luhansk und es sprach sich herum, dass die Ukrainer sie beschießen. So stieg der Druck auf den Kreml, zu handeln, besonders als klar war, dass die Minsk-Abkommen nichts bringen.

Donetsk oder Luhansk waren von Russen besetzt, die Menschen dort wollten Umfragen zufolge bei der Ukraine bleiben. 

Ich kenne zwei Männer aus Luhansk. Einer ist der Ehemann meiner Assistentin. Der fände es besser, wenn die Stadt bei der Ukraine wäre. Der andere sieht das genau umgekehrt. Ich weiß nicht, was die Realität ist.

Rechtfertigen Fragen wie diese zehntausende Tote, darunter Kinder und Frauen? 

Es herrscht offener Krieg und das ist wie gesagt schrecklich.

Wladimir Putin droht sogar mit Atombomben.

Davon weiß ich nichts. Was ist die Drohung? Was genau sind die Aussagen? 

Ein Konflikt mit der NATO werde atomar enden, lautet eine davon.

Das ist keine Drohung sondern eine Tatsachenfeststellung.

Die NATO hat kein Interesse an einem Angriff.

Hat Russland ein Interesse, ein NATO-Land anzugreifen? 

Putin begründete den Überfall auf die Ukraine unter anderem mit einem dortigen NATO-Stützpunkt.

Das Ausbildungsziel von 5.000 NATO-Soldaten in der Ukraine lautete, wir machen die Russen fertig. Es war schöner formuliert, aber das war der Sinn der Sache. Ich verstehe, dass den russischen Präsidenten das gestört hat.

Die NATO ist ein Verteidigungs- kein Angriffsbündnis.

Hat Russland die Ukraine angegriffen? Oder die Ukraine Russland? Oder ist das Ganze vielleicht etwas komplizierter?  

Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland die Ukraine überfallen hat. 

In Kriegen sagen immer alle, sie hätten sich nur verteidigt.

Nun sind die Bedingungen, die Putin für einen Frieden stellt, unerfüllbar.

Das sind sie wohl. Territorien zu besetzen und behalten zu wollen bedeutet einen Eingriff in die Souveränität eines Landes. Den kann kein Präsident akzeptieren. Genauso wenig kann Russland seine Forderung zurücknehmen. Deshalb haben wir eine Pattstellung. Entweder gehen beide dabei drauf oder nur einer. So sehe ich das.

Welche Rolle spielt Donald Trump?

Trump scheint die Europäer zu mögen, aber gerne mit ihnen zu spielen. Das gleiche gilt für Trumps Verhältnis zu den Russen. Ich bin kein Experte für Geopolitik, aber so sieht es für mich aus.

Wie steht die russische Bevölkerung zu den Amerikanern?

Vor drei Jahren mochten viele sie noch. Sie fanden, sie hätten ein ähnliches Freiheitsverständnis. Danach haben sie Trump und Amerika neutral beobachtet. Heute misstrauen viele Trump, er sendet zu ambivalente Signale. Er erkennt die russischen Kriegsgründe an, liefert aber gleichzeitig Waffen an die Ukraine. 

Ist Trump oder Putin der bessere Stratege?

Putin ist sehr berechenbar. Er will die Krim zurück. Würde ihm etwas zustoßen, würde ein Atomkrieg drohen, weil sich dann das ganze Land in Gefahr sehen würde. 

Wie lange hält Russland den Krieg durch?

Bis zum Ende. Russland kann 20 Millionen Soldaten in zwei Monaten rekrutieren, wenn es hart auf hart kommt.

Die Wirtschaft leidet schon jetzt unter Fachkräftemangel, weil die Männer zur Armee gehen.

Einerseits stimmt das. Andererseits brauchen wir wenige Fachkräfte, weil wir in Russland stark automatisieren. Man muss wissen: Die Produktivität pro Kopf war in Russland lange eher niedrig, hat sich aber in den vergangenen Jahren spürbar verbessert. So zynisch es klingen mag, genau das könnte erklären, warum selbst mit weniger Fachkräften die Gesamtproduktion nicht automatisch sinkt. Und Russland hat schon lange vor 2022 gezielt an solchen Verbesserungen gearbeitet.

Verurteilen Sie auch den hybriden Krieg Russlands gegen Europa?

Hybride Kriege gab es schon immer. Der Versuch, die Bevölkerung der Gegenseite mit Informationen zu beeinflussen, ist nichts Neues. Klar will Russland auch die Meinung der Deutschen und Österreicher lenken. Umgekehrt haben beide Länder das gleiche Interesse. Das heißt, hybrider Krieg beruht auf Gegenseitigkeit.  

Auf welcher Seite stehen Sie in diesem Krieg? 

Ich bin Doppelstaatsbürger. Ich verstehe die europäischen Positionen und auch die russischen. Meine Heimat ist Österreich.

Bei einer Pressekonferenz, bei der Sie “Willkommen in Russland” vorgestellt haben, haben Sie noch gemeint, Sie seien kein Fremder mehr, Sie würden sich wie ein Russe fühlen. 

Ich lebe seit vielen Jahren in Russland. Meine Familie ist hier, ich über hier meinen Beruf aus und echte Freunde habe ich auch gefunden. Russland ist mein Lebensmittelpunkt geworden. Die russische Staatsbürgerschaft habe ich aus praktischen Gründen angenommen, ständige Visaverlängerungen waren einfach mühsam. Mit dem Pass wurde vieles einfacher. Und ehrlich gesagt: Es hat sich auch richtig angefühlt. Ich habe in Österreich offiziell beantragt, meine Staatsbürgerschaft behalten zu dürfen und das wurde genehmigt. Das hat die Entscheidung erleichtert. Emotional bin ich heute ein Stück weit Russe. Ich versuche, das Beste aus beiden Welten zu leben, meine Herkunft zu bewahren und offen zu sein für das, was ich hier gefunden habe. 

Warum gehen Sie nicht zurück?

Nach Österreich? Das würde ich gerne.

Was spricht dagegen?

Wegen der Berichterstattung über mich sind die Kunden weg und die Banken haben unsere Konten gekündigt. Ich bin nicht nur für meine Familie verantwortlich, sondern für viele Menschen. Ich musste eine Entscheidung treffen, und die konnte nur darin bestehen, hier zu bleiben. 

Bereuen Sie die Entscheidung heute? 

Ich würde mir wünschen, ich hätte sie nie treffen müssen.

Sie haben noch ein Firma in Österreich. 

Das stimmt nicht. Wir haben uns wegen all der Probleme 2022 entschieden, die Zusammenarbeit mit der österreichischen Firma komplett einzustellen. Es gibt keine beruflichen Verflechtungen mehr. Seit der Gründung 2021 hat der Inhaber keine Eigentümerrechte gegenüber der Tochterfirma ausgeübt, keine Dividenden erhalten und keinen Einfluss auf Entscheidungen genommen. Seit 2022 gab es auch keine finanzielle oder sonstige Unterstützung mehr. Die Geschäftsführung arbeitet völlig eigenständig. Und das bleibt auch so, solange sich die politische Lage nicht ändert.

Wie läuft die österreichische Firma?

Nicht besonders gut, soweit ich das aus der Ferne sehe. Das Unternehmen leidet darunter natürlich und wird es hoffentlich trotzdem überleben. Es soll doch eine positivere Zukunft geben?

Befürchten Sie, dass Sanktionen auch Sie treffen könnten? 

Nein. Ich tue nichts Falsches. Ich mache mir nur Sorgen wegen der falschen Unterstellungen. Ich soll ein Fädenzieher sein? Ich habe keine Ahnung, um welche Fäden es hier geht. 

Die Berichte über Sie sind alle Desinformation?

Ich weiß nicht, was genau Desinformation ist, das ist ein so häufig verwendeter Begriff. Ist alles, was nicht perfekt recherchiert ist, schon Desinformation? Was bisher über mich in Berichten steht, entbehrt jedenfalls jeder Grundlage und stellt falsche Zusammenhänge her.  

Danke für das Gespräch. 

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1 Kommentar
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17 June 2025 Antworten



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