
Die Amerikaner kaufen im Supermarkt seit Jahren XXL-Packungen Chips und Schokolade, die Familienpizza gilt als reguläre Größe auch für Singles, Fastfood-Ketten wie McDonald’s, Burger King und Kentucky Fried Chicken sind die Restaurants der Stunde. Der Lebensstil macht sich beim Body Mass Index (BMI) bemerkbar. Mehr als siebzig Prozent der Bevölkerung sind übergewichtig, haben also einen BMI von über 25. Fast jede zweite Amerikanerin hat einen BMI von mehr als dreißig und gilt damit als adipös.
Ähnliches bahnt sich in Europa und Österreich an. Immer mehr Menschen haben Bürojobs, das Auto ersetzt das Fahrrad, hochverarbeitete Lebensmittel sind im Trend. Der amerikanische Lebensstil erfreut sich wachsender Beliebtheit, der BMI steigt. Bereits jeder dritte Österreicher ist übergewichtig. Auch Kinder und Jugendliche werden immer dicker. Ein Drittel der achtjährigen Buben und ein Viertel der gleichaltrigen Mädchen ist betroffen. Tendenz steigend. Acht Prozent aller Todesfälle sind auf Übergewicht zurückzuführen.
Mit diesen Zahlen liegt Österreich im weltweiten Spitzenfeld. „Adipositas stellt für uns ein enormes medizinisches Problem dar“, sagt Gerlies Treiber, Fachärztin für Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Innere Medizin der Medizinischen Universität Graz.
Steigen die Adipositas-Zahlen weiter, nehmen auch Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs und Arthrose zu. Häufen sich die Arztbesuche, steigen auch die Gesundheitsausgaben.
Adipositas ist schon jetzt für fast fünf Prozent verantwortlich. In absoluten Zahlen waren das 2019 laut einer IHS-Studie rund 2,4 Milliarden Euro. Davon waren 1,9 Milliarden Euro Gesundheitsausgaben. Die restlichen 480 Millionen Euro entfielen auf indirekte, etwa durch Krankenstand entstehende, Kosten. Fettleibigkeit verursacht jährlich 537.000 Krankenhaus- und 1,2 Millionen Krankenstandstage. Einer OECD-Studie aus dem Jahr 2023 zufolge sinkt das österreichische BIP wegen Adipositas jährlich um 0,61 Prozent.
Die Zahlen zeigen, Österreich ist nicht ausreichend auf den Anstieg vorbereitet. Es gibt keine Zuckersteuer, eine transparente Kennzeichnung dickmachender Lebensmittel fehlt, der Staat subventioniert gesunde Lebensmittel nicht ausreichend, heißt es im World Obesity Report. Es gibt nur wenig Zusammenarbeit zwischen medizinischen und psychotherapeutischen Einrichtungen und die Gesundheitskasse übernimmt die Kosten für Adipositas-Medikamente nicht.
Andere Länder zeigen, es geht auch besser. Finnland, die Niederlande oder Japan gelten demnach als ausreichend vorbereitet. Sie planen langfristige und strukturverändernde Maßnahmen.
In Finnland läuft seit 1972 das „North Karelia Project“. Dabei arbeiten Gemeinden, Schulen, Landwirtschaft, Medien und das Gesundheitswesen zusammen, um eine gesunde Ernährung und einen aktiven Lebensstil zu fördern. Ziel des Projekts war es ursprünglich, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu vermeiden. Seit Beginn der Adipositas-Epidemie hat es auch die Bekämpfung von Übergewicht auf dem Programm.
In den Niederlanden ist „Jongeren Op Gezond Gewicht“, also „Jugendliche mit gesundem Gewicht“, ein bekanntes Programm. Es setzt sich für eine gesunde Jause, ein ausgewogenes Mittagsbuffet an Schulen und für Trinkwasser statt Softdrinks ein. Auch der Ausbau von Rad- und Joggingwegen sowie Infrastruktur für Ballsportarten und öffentlich zugängliche Fitness-Geräte in Parks sind Teil des Projekts.
Japan hat 2008 „Ippan Kenshin“, also einen jährlichen allgemeinen Gesundheitscheck für Erwachsene gesetzlich verankert. Dabei messen Ärzte auch den Bauchumfang und beraten im Falle beim Abnehmen. Gesunde Ernährung und Bewegung haben in dem ostasiatischen Land traditionell hohen Stellenwert. Die Adipositas-Rate liegt dementsprechend nur zwischen vier und fünf Prozent. In allen Vorzeigestaaten des World Obesity Reports sind die Präventionsprogramme erfolgreich. Die Adipositas-Zahlen stagnieren, statt wie in Österreich zu steigen.
In Österreich gibt es nur vereinzelte Initiativen, die der ganzen Dramatik des kommenden nicht gerecht werden. Ein staatlicher Plan wie in den Vorzeigeländern fehlt, wenn die einzelnen Projekte auch die Richtung weisen.
Prävention gibt es hauptsächlich für Kinder und Jugendliche, so etwa eine Leitlinie für das Schulbuffet und Empfehlungen für das Mittagessen im Kindergarten. Gesundheitsförderprogramme wie „Richtig essen von Anfang an!“ oder „Kinder essen gesund“ sollen Kinder, werdende Eltern, junge Familien und Pädagogen mit kostenlosen Workshops, Leitfäden, Handbüchern und Videos beim vernünftigem Essen unterstützen.
Im „Strategieplan gesunde und nachhaltige Ernährung 2025-2030“ nimmt sich das Gesundheitsministerium der Kritik des World Obesity Report an. Es will die Werbung für stark zucker-, fett- oder salzhaltige Produkte beschränken. Gesunde und ungesunde Lebensmittel sollen künftig klarer erkennbar sein. Dafür will die Regierung Nährwert-Labels für Supermarkt-Produkte entwerfen. Noch hat sie nichts davon umgesetzt.
Der Österreichischen Adipositas Gesellschaft und der Ärztekammer Wien ist das nicht genug. Sie fordern einen starken Ausbau von Präventionsprogrammen und Vorsorgeangeboten. „Wir brauchen effiziente Ernährungs- und Bewegungsprogramme und müssen auch übergewichtige Prädiabetiker begleiten, damit sie erst gar nicht Diabetes entwickeln“, sagt Naghme Kamaleyan-Schmied, Vizepräsidentin der Wiener Ärztekammer. Sie hat ihr eigenes Projekt „Med4School – Die Gesundheitsdrehscheibe“ ins Leben gerufen. Es berät Jugendliche hinsichtlich eines gesunden Lebensstils.
Die Ärztekammer Wien spricht sich zudem für Anreizmodelle zur Vorsorge aus. Als einen guten Anfang sieht sie den „Gesundheitshunderter“ der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen. Versicherte erhalten einen Hundert-Euro-Bonus, wenn sie zur Vorsorgeuntersuchung gehen oder an gesundheitsfördernden Programmen teilnehmen.
Auch „Nudging“, also eine Verhaltensbeeinflussung, sieht sie als vielversprechendes Werkzeug in der Adipositas-Vorsorge. Das könnte etwa mit ansprechenden Namen für gesunde Speisen wie „Fitness-Bowl“ statt „Linsensalat“ oder durch eine prominente Platzierung gesunder Lebensmittel im Supermarkt geschehen.„Präventionsprogramme vermeiden nicht nur Übergewicht“, betont Kurt Widhalm, Präsident des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin, „neuen epidemiologischen Studien zufolge kann ein gesunder Lebensstil zwanzig gesunde Jahre schenken“.
Am besten auf die anrollende Adipositas-Welle vorbereitet, scheinen die Wiener Friedhöfe zu sein. Für stark übergewichtige Menschen bieten sie bereits XXL-Särge an. Übergewicht kommt allerdings auch nach dem Tod teuer. Särge in Übergröße, von den Bestattern als Big Mac bezeichnet, kosten oft den vierfachen Preis der Standardmodelle. Statt der üblichen tausend bis zweitausend Euro kann ein solcher Sarg bis zu fünftausend Euro kosten.
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