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Wien profitiert vom italienischen Brain-Drain

In den vergangenen zehn Jahren verdoppelte sich die Zahl der in Wien gemeldeten Italiener auf 15.484. Was macht die Bundeshauptstadt für italienische Auswanderer so attraktiv? Wer sind die Italienerinnen und Italiener, die in Wien ein neues Zuhause suchen? Campus a fragte nach.
Robert Gafgo  •  2. September 2025 Redakteur    Sterne  718
Während es in Italien an Perspektiven mangelte, schafften es Brigitte und Domenico Pugliese in Wien, ihren Traum zu verwirklichen. (Foto: Robert Gafgo)
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Fällt in Wien das Wort „Zuwanderung“, denken die meisten wohl zunächst an Zuzügler aus der Arabischen Welt oder Osteuropa. Doch auch bei Italienern erfreut sich die Bundeshauptstadt steigender Beliebtheit. Kürzlich berichtete die Kronen Zeitung, Italien ist nach Deutschland, Ungarn, Bulgarien und Polen das inzwischen fünftstärkste Herkunftsland von EU-Zuwanderern. Laut Rathaus leben aktuell 15.484 italienische Staatsbürger in der Stadt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Tendenz steigend.

Über die Gründe für den Boom rätselten die Krone und das Rathaus gleichermaßen. Die Antwort zeigt sich im überdurchschnittlich jungen Altersprofil von Wiens Italienern. Ein Drittel ist zwischen 19 und 44 Jahren. Davon ist die Hälfte im besten Erwerbsalter zwischen 25 und 44 Jahren. 

Perspektiven für Träumer

Domenico Pugliese kam vor rund 15 Jahren nach Wien. Ursprünglich aus Kalabrien, der südlichsten Region des italienischen Festlands, kennt er das Thema Migration nur zu gut. Das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle des Landes zwingt viele Süditaliener, in den reicheren Norden abzuwandern. „In Süditalien ist Migration fix. Du musst weg.“

Umso überraschter war Pugliese, als er in Wien ebenso auf Norditaliener traf. „Das waren nicht irgendwelche Verlierer, sondern allesamt Menschen mit hohen Qualifikationen und Universitätsabschlüssen“, sagt der heute 55-Jährige. „Viele sind Architekten, Ingenieure, Künstler, Musiker oder Wissenschaftler. Die finden hier bessere Jobs und vor allem echte Verträge. Unbefristete Anstellungen sind in Italien schwer erhältlich.“

Auch in Norditalien können junge Menschen meist nur auf Projektverträge hoffen. Wien bietet dagegen die Möglichkeit, Träume zu verwirklichen. Auch Pugliese erfüllte seinen Traum in Wien. Gemeinsam mit seiner Frau Brigitte, einer gebürtigen Österreicherin, betreibt er den Casa Caria-Delikatesshandel. Fernab aller Klischees von Cappuccino und Aperol Spritz verkaufen sie in zwei Filialen im 7. Bezirk ein Stück italienisches Lebensgefühl in Wien. Naturbelassene Olivenöle und Zitrusfruchtraritäten sind ihre Spezialität.

Renten für die Jugend

Neben der fehlenden Jobsicherheit ist die Entlohnung ein starker Motivator zur Auswanderung. Während die Lebenshaltungskosten in den vergangenen Jahren stiegen, stagnierten italienische Löhne seit den 90ern. Ab 1992 veräußerte Italien zahlreiche staatliche Banken und Unternehmen.

Die Inflation (weiß) hängt italienische Löhne (orange) immer weiter ab. (Foto: Reuters)

Denn die Einführung des Euros war in voller Vorbereitung. Italien musste seine Staatsschulden verringern, um die Kriterien der neuen Währung zu erfüllen. In der folgenden Privatisierungswelle konnte der Staat zwar seine Schulden tilgen, wichtige Reformen und Modernisierungsmaßnahmen blieben aber aus.

„Viele der Jungen leben von den Pensionen der Großeltern. Das ist kein faires Gesellschaftsmodell mehr.“ Im Gegensatz zu Italien lohnt es sich für junge Menschen in Österreich noch, an die Zukunft zu denken, so Pugliese weiter. Mittlerweile gründeten einige seiner italienischen Freunde sogar Familien in Wien.

Auswanderung der Talente

Ernst Kanitz, Referent am Italienischen Kulturinstitut im dritten Wiener Gemeindebezirk, kann Puglieses Schilderungen großteils unterschreiben. Besonders fällt ihm die Zuwanderung im wissenschaftlichen Sektor auf. „Wien beherbergt viele italienischen Wissenschaftlern aller Disziplinen. Zum wissenschaftlichen Austausch gibt es auch die Assai, eine eigene Vereinigung für italienische Forscher, die in Österreich leben und arbeiten.“

Bis 2006 gab es außerdem ein eigenes Ministeramt für Italiener im Ausland. Heute kümmert sich das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit um die Anliegen der italienischen Diaspora. (Foto: Shutterstock)

Im Allgemeinen steht Italien vor dem Problem des „Brain-Drain“, also dem Verlust von hochqualifizierten Fachkräften, so Kanitz. Durch seine geografische Nähe zieht Wien als zweite Heimat viele dieser Fachkräfte an. Über Autobahnen und günstige Flugrouten ist es einfach zu erreichen. Weitere Qualitäten, wie die gute Infrastruktur in Form von Kindergärten und dem öffentlichen Verkehrsnetz, erhöhen die Attraktivität.

Infrastruktur lädt zum Bleiben ein

„Wenn Arbeit leicht zu finden ist und die Infrastruktur passt, dann lädt das ganze System dazu ein, zu bleiben“, sagt Kanitz. In Wien sieht er Nord- und Süditaliener gleichmäßig vertreten. Die eigentliche Zahl der italienischen Staatsbürger schätzt er noch höher als 15.484.

Als Sonderfall gelten die Südtiroler. Aufgrund der selben Sprache und der kulturellen Nähe hatten Wien und Österreich im Allgemeinen seit jeher eine starke Südtiroler Präsenz. Neben Bozen und Bologna, unterhält die Südtiroler HochschülerInnenschaft beispielsweise auch Außenstellen in Innsbruck, Salzburg, Graz und Wien.

Nicht nur die kulturelle Nähe macht Österreich attraktiv. „Ob im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft, fast überall sind die Gehälter hierzulande höher“, sagt Dominik von Spinn. Der gebürtige Südtiroler ist Doktorand an der Universität für Bodenkultur Wien. In Italien sei die Situation weit schwieriger, weswegen Südtiroler Studienabgänger, die vielfach in Österreich oder Deutschland studierten, oftmals aufgrund der besseren Gehälter hier bleiben.

Am Beispiel der Gehälter von Lehrkräften machte die Südtiroler Tageszeitung “Dolomiten” auf die eklatanten Gehaltsunterschiede zwischen Südtirol und Tirol aufmerksam. (Foto: Dolomiten)

Von Brain-Drain zu Brain-Back

„Italien ist ein traditionelles Auswanderungsland“, erklärt Kanitz. Von 59,1 Millionen Italienern leben rund 5,8 Millionen im Ausland. Schon um 1900 gab es große Auswanderungswellen in die Vereinigten Staaten, vor allem aus Sizilien. Hauptauslöser war die 1871 vollendete Vereinigung Italiens, „Risorgimento“, zu Deutsch „Wiedererstehung“ genannt.

Nach einer Serie von Aufständen und Kriegen vereinten sich mehrere Republiken und Königreiche Italiens letztlich zu einem Nationalstaat. Ein politischer Erfolg, für die Ökonomie allerdings ein Schock, der bis heute noch im extremen Nord-Süd-Gefälle sichtbar blieb. Von 1860 bis 1914 emigrierten rund 16 Millionen aus Italien.

Abwanderung mag in Italien eine lange Tradition haben, willkommen ist sie deshalb nicht. Der Verlust hochqualifizierter Arbeitskräfte kostet die Volkswirtschaft jedes Jahr Milliarden. Zwar versuchte die Politik immer wieder, mit öffentlichkeitswirksamen „Brain-Back“-Programmen gegenzusteuern. Vergünstigungen, Steuervorteile und höhere Löhne sollten Anreize zur Rückkehr bieten. Die steigenden Auswanderungszahlen, etwa nach Städten wie Wien, zeigen aber, wie wenig realpolitische Schlagkraft solche Maßnahmen bisher hatten.

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