Die Freude über den Gewinn von etwas ist nie so anhaltend oder so tief wie der Schmerz, den wir erleben, wenn wir die gleiche Sache wieder verlieren. Selbst wenn der Besitz dieser Sache gar nicht der Plan war. Jemand erbt zum Beispiel ein Bild und hängt es sich eher aus Höflichkeit gegenüber dem oder der Verblichenen an die Wand. Klauen Einbrecher das Bild, sind sie dennoch tief betroffen.
Dieses seltsame Muster gilt sogar für nicht materielle Werte. Zum Beispiel für Beziehungen. Auch wenn jemand eher in eine Beziehung gestolpert als von Schmetterlingen getragen hineingeflogen ist und sie nie richtig gut wurde, kann seine oder ihre Angst vor ihrem Verlust groß sind. Die wenigsten Menschen müssen unbedingt alles haben, aber was sie haben, wollen sie unbedingt behalten. Warum ist das so?
Verluste wirken im Gehirn stärker als Gewinne, sagen Studien. Während die Freude über einen überraschenden Gewinn oder ein Geschenk nur kurz anhält, verankert sich der Schmerz eines gleich großen Verlustes tiefer und nachhaltiger.
Die Psychologie und Ökonomie nennt diese systematische Verzerrung im Erleben und Bewerten Verlustaversion. Diese Abneigung gegenüber Verlusten kann das Verhalten von Einzelpersonen und Unternehmen erheblich beeinflussen.
Die Ursache liegt in der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Für frühe Gesellschaften war der Verlust von Nahrung, Schutz oder sozialen Bindungen eine unmittelbare Bedrohung für das Überleben. Der entgangene Zugewinn, etwa ein nicht erlegtes Tier, war zwar nachteilig, aber in den meisten Fällen nicht existenzgefährdend. Der Verlust bereits vorhandener Ressourcen dagegen konnte gravierende Folgen haben.
Die Wiener Psychologin Sabine Schneider betont diesen evolutionären Zusammenhang. „Früher konnte ein Verlust existenzbedrohend sein. Wenn Vorräte abhanden gekommen sind, bedeutete das reale Lebensgefahr. Es war nicht möglich, wie heute, einfach nachzukaufen.“ Gewinne hätten in diesem Kontext nur einen vorübergehenden Vorteil dargestellt, während Verluste das Überleben unmittelbar in Frage stellten.
Eine Studie der amerikanischen Forscher Paul Rozin und Edward Poyzman von 2001 zeigt, das Gehirn reagiert unterschiedlich auf Gewinne und Verluste. Während Gewinne das Belohnungssystem aktivieren, ist die im Temporallappen des Gehirns gelegene Amygdala, die unter anderem an der Verarbeitung von Angst beteiligt ist, deutlich stärker durch Verluste beeinflussbar. Negative Erlebnisse bleiben dadurch länger im Gedächtnis als positive.
Diese Tendenz wird als Negativity Bias bezeichnet und gilt als evolutionär verankertes Warnsystem. Schneider bestätigt dies. „Ein Zugewinn wird rasch zum Selbstverständnis, während wir über Verluste länger nachdenken. Verlust löst Stress aus.“
Einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung dieses Themas leisteten die israelischen Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky mit ihrer 1979 veröffentlichten Prospect Theory. Sie zeigte, wie Menschen Entscheidungen nicht rational, sondern emotional treffen. Daraus ergeben sich paradoxe Entscheidungsmuster.
Ein langjähriger Mitarbeiter eines Unternehmens zum Beispiel empfindet seine Arbeit als frustrierend und sieht keine Aufstiegsmöglichkeiten. Da er bereits viele Jahre in das Unternehmen investiert hat, hält er dennoch an seiner Position fest. Der Gedanke, einen Neuanfang zu wagen und sich woanders zu bewerben, erscheint ihm riskant. Die Angst, seine bisherigen Anstrengungen könnten umsonst gewesen sein, begleitet ihn. Die Angst vor dem Verlust der investierten Zeit und der etablierten Routinen hält ihn davon ab, sich für eine bessere Alternative zu entscheiden.
Besonders deutlich zeigt sich das Phänomen in Beziehungen, erklärt Schneider. „Viele Menschen verharren in Partnerschaften, die unglücklich machen.“ Nicht, weil die Liebe noch da wäre, sondern weil die Angst vor dem Verlust lähmt. Verlust des vertrauten Alltags, der gemeinsamen Routinen, der Gewissheit, am Abend nicht allein zu sein. Das Bekannte erscheint wertvoller, selbst wenn es längst keinen Gewinn mehr bedeutet. Die Möglichkeit, neu zu beginnen, löst Angst aus.
Schneider verweist hier auf die Abhängigkeit im Kindesalter. „Kinder sind vollständig von ihren Eltern abhängig. Schon kleine Irritationen, etwa wenn ein Geschwisterkind geboren wird oder die Eltern sich kurzzeitig abwenden, können existenzielle Ängste auslösen. Auch die Angst, die Eltern vergessen einen aus dem Kindergarten abzuholen, ist Ausdruck dieser Abhängigkeit.“ Solche Muster, so Schneider, ziehen sich oft bis ins Erwachsenenalter und wirken sich auf künftige Beziehungen aus.
Verlustaversion hat weitreichende Folgen für individuelles Verhalten und gesellschaftliche Prozesse. Auf persönlicher Ebene führt sie dazu, dass Menschen an Situationen, Investitionen oder Beziehungen festhalten, auch wenn objektiv bessere Alternativen vorhanden wären.
Dies betrifft nicht nur finanzielle Entscheidungen, sondern auch berufliche und private. So bleiben Arbeitnehmer mitunter in Positionen, die unzufrieden machen. Die bereits investierte Zeit und Energie ein erzeugen ein Gefühl von Verpflichtung.
Im wirtschaftlichen Bereich beeinflusst Verlustaversion Anlageentscheidungen. Anleger neigen dazu, Wertpapiere mit Verlusten zu lange zu halten, aus Angst, die Aktien könnten doch noch steigen. Gewinne hingegen werden häufig zu früh verkauft, aus Angst, sie wieder zu verlieren. Beides kann langfristig zu kontraproduktiven Ergebnissen führen.
Zudem hat Verlustaversion psychologische Auswirkungen. Sie kann zwar riskante Entscheidungen verhindern und damit Schutz bieten, führt aber auch zu Stress, wenn Menschen an nicht mehr förderlichen Strukturen festhalten. Sie blockieren Chancen auf Entwicklung, Innovation oder persönliches Wachstum. Langfristig kann dies zu Stagnation führen, sowohl individuell als auch gesellschaftlich.
Wie sich diese Mechanismen beeinflussen lassen, erklärt Schneider mit der Bedeutung von Selbstwirksamkeit. „Wenn Menschen erkennen, dass ein Verlust heute keine existentielle Bedrohung mehr darstellt, können sie gelassener reagieren. Es geht darum, kognitiv zu verankern: Ich kann mich selbst retten. Ich bin nicht mehr abhängig wie ein Kind.“ Zwar steckt evolutionär bedingt noch immer die Angst des Mangels im menschlichen Denken. Doch im heutigen Zeitalter herrscht längst eine Konsumgesellschaft. An Lebensmitteln, Wasser, Kleidern, Ressourcen und gesellschaftlichen Strukturen mangelt es im Großteil der Welt nicht. Wer erkennt, dass das Verlieren von etwas oft kein Minus ergibt, sondern befreiend wirken kann, kann sich entspannter aus Angstsituationen lösen.
Eine bewährte Methode, um mit Verlusten besser umzugehen, ist das Praktizieren von Dankbarkeit. Wer sich bewusst vor Augen führt, was er bereits besitzt, wird feststellen, wie diese Liste mit jedem Gedanken wächst. Dieses veränderte Bewusstsein kann dabei helfen, Verluste in ein realistisches Verhältnis zu setzen und sie dadurch weniger schwer zu empfinden.
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