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Ausstieg per Fahrrad: Warum Bikepacking boomt

Bikepacker inspirieren über die sozialen Medien vor allem jüngere Menschen dazu, es ihnen gleichzutun. Was verlockt dazu, Strapazen bis an die körperlichen Grenzen, Isolation und Karriereknick für ein Leben auf dem Fahrrad in Kauf zu nehmen?
Patricia Schock  •  19. Oktober 2025 Volontärin    Sterne  296
Seit sieben Jahren lebt sie auf dem Fahrrad: Merle Schäfer aus Hannover. (Foto: Merle Schäfer)
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Der Tag von Bikepackern beginnt im Zelt, irgendwo zwischen Bergen und Wüste oder Küste. Der Ablauf ist immer gleich: Aufstehen, Kaffee kochen, Zelt abbauen, auf das Fahrrad steigen und die Tagesetappe beginnen. Dabei geht es nicht um Sport, sondern ums Aussteigen und Umsteigen auf eine neue Lebensform, um Freiheit, Selbstbestimmung und Einfachheit. Das Fahrrad wird zum zentralen Werkzeug. Die Faszination liegt im Gleichgewicht zwischen körperlicher Anstrengung, Naturerfahrung und mentaler Ruhe. Die Folgen sind Strapazen, Isolation und ein Leben an den körperlichen Grenzen. Zahlt sich das wirklich aus?

Ein rollender Aufwärtstrend

Die wachsende Aufmerksamkeit zum Bikepacking lässt sich als Gegenreaktion auf eine durchgetaktete, digitalisierte Gesellschaft verstehen. Während das Alltagsleben von Effizienz und Komfort geprägt ist, das Reisen mit dem Fahrrad ein Weg, auf bewusste Entscheidungen und Minimalismus zu setzen. Jede Anschaffung, jedes Gramm Gepäck muss essenziell sein. Dieser Minimalismus führt zu psychologischer Entlastung. Wer weniger besitzt, trifft weniger Entscheidungen und erlebt ein Gefühl von Kontrolle und Klarheit.

Die Bikepackerin Merle Schäfer aus Hannover, die seit sieben Jahren mit ihrem Ehemann auf radelnder Weltreise ist, beschreibt diesen Prozess als Befreiung von Überfluss. „Ich merkte schnell: Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Es reicht, wenn ich Neues entdecken und erleben darf.“ Für sie bedeutet Zufriedenheit nicht, möglichst viel zu erreichen, sondern ihren Alltag bewusst und aufregend zu gestalten.

Kinder und RadHighfive: Beim Bikepacking geht es ums Kennenlernen anderer Kulturen (Foto: Merle Schäfer)

Influencer on Tour: Ewige Freiheit und doch Selbstinszenierung?

Das öffentliche Interesse am Bikepacking wächst auch durch Menschen, die ihre Erlebnisse dokumentieren und zugänglich machen. Abenteurer und Content-Creator wie Jonas Deichmann, Daniel Großhans und Wiebke Lühmann tragen wesentlich dazu bei, Bikepacking populärer und nachvollziehbarer zu machen. Über soziale Medien und Dokumentationen vermitteln sie ein realistisches Bild vom Leben auf dem Fahrrad, geprägt von Anstrengung, Improvisation und Begegnungen.

Ihre Projekte reichen von Langstreckenfahrten durch entlegene Regionen bis zu Rekordtouren über Kontinente hinweg. Deichmann wurde vor allem durch seine Extremtouren, etwa vom Nordkap bis zum Süd Kap, bekannt. Sein Buch „Cape to Cape“ beschreibt den Lesern nachvollziehbar Deichmanns Erfahrungen auf seinem Abenteuer. Auf YouTube verfolgen ihn mehr als 60.600 Zuschauer. Auch Großhans genießt mit mehr als 360.000 Followern auf YouTube eine große Zuschauerschaft und dokumentiert dort seine Reisen durch Länder wie Afghanistan, wo er trotz schwieriger Bedingungen positive soziale Erfahrungen sammelte. Ungefiltert und schonungslos filmt er sich in Momenten mentaler Überforderungen und zeigt seine Gefühlsausbrüche. Wiebke Lühmann zeigt ihren 270.000 Followern auf Instagram, wie auch alleinreisende Frauen auf dem Fahrrad sicher und selbstbestimmt unterwegs sein können. 

Gemeinsam vermitteln sie, Bikepacking ist nicht nur Abenteuerlust, sondern fördert auch psychologische Effekte wie Selbstwirksamkeit, Vertrauen und Resilienz. Ihre Reichweite macht sichtbar, wie diese Form des Reisens keine elitäre Nische, sondern eine zugängliche Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung ist. 

Krise und Vertrauen

Bikepacking führt Reisende häufig in Regionen, die gesellschaftlich oder politisch als instabil gelten. Die Erfahrung, dort auf Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft zu treffen, wirkt für viele prägend. Daniel Großhans beschreibt etwa eine Begegnung in Afghanistan, bei der ihn eine Familie aufnahm, obwohl sie selbst kaum etwas besaß. Solche Erfahrungen schaffen Vertrauen. Sowohl in die Menschen, aber auch in die eigene Fähigkeit, mit Hindernissen umzugehen.

Ähnliches berichtet Merle Schäfer aus Südostasien, wo spontane Einladungen zum Abendessen oder Übernachten alltäglich wurden. Ein spontanes Gespräch, ein gemeinsames Foto und schnell ist eine neue Bekanntschaft geschlossen. Vollkommen ungeplant, daher umso echter. Diese zwischenmenschlichen Kontakte wirken wie Gegenbilder zu den oft negativen globalen Schlagzeilen. Sie geben die Erkenntnis: Kooperation und Vertrauen sind zentrale Bestandteile menschlicher Interaktion.

Hühner auf RadHühnertransport in Vietnam (Foto: Merle Schäfer)

Der Ausstieg: Ein neues Verhältnis zum Leben

Nach längeren Reisen verändert sich bei vielen Bikepackern das Verhältnis zu Besitz, Arbeit und Sicherheit. Der Alltag auf dem Rad relativiert materielle Bedürfnisse und fördert eine Haltung, die auf Selbstbestimmung und Einfachheit ausgerichtet ist.

„Ich sehe Menschen, die in ihrem Leben funktionieren, es aber nicht bewusst und aus vollem Herzen leben“, so Merle. Für sie ist das Radfahren keine Flucht, sondern eine bewusste Entscheidung für einen reduzierten Lebensstil. Ähnlich formuliert es Daniel Großhans, der betont, dass wahre Freiheit aus dem Verzicht auf Überflüssiges entsteht. Beide finden in der körperlichen Bewegung und der unmittelbaren Selbstversorgung eine Unabhängigkeit, die kaum ein anderes Lebensmodell bietet.

Kosten und Versicherungen

Während Bikepacking große Freiheit verspricht, darf auch diese finanziell geplant und versichert sein. Reisende finanzieren sich über saisonale Jobs oder durch digitale Arbeit. Merle arbeitet drei bis vier Monate im Jahr in der Schweizer Gastronomie, um anschließend ohne Geldsorge reisen zu können. Sie vertraut im Notfall auf ihre Reisekrankenversicherung. Ihr Mann hingegen verzichtet auf die Absicherung einer Krankenkasse und vertraut der örtlichen Verpflegung im jeweiligen Land. 

Ihre Lebenshaltungskosten sind gering. Übernachtungen im Zelt oder bei Einheimischen, selbstgekochte Mahlzeiten und der Verzicht auf Alkohol, Partys oder Zigaretten erlauben, lange günstig reisen zu können. Großhans wiederum nutzt Social Media als Einnahmequelle und finanziert seine Reisen durch Werbepartnerschaften. 

Mann und Frau auf RadMerle und ihr Mann lernten sich auf dem Jakobsweg beim Wandern kennen. Seither reisen sie zusammen auf dem Fahrrad (Foto: Merle Schäfer)

Gastfreundschaft als Lebenssicherung

Ein wichtiger psychologischer Punkt des Bikepackings ist das Wiedererlernen von Urvertrauen. Wer mit dem Fahrrad reist, erfährt unerwartete Hilfsbereitschaft, unabhängig von Sprache, Kultur oder Wohlstand.

„Die Begegnungen passieren einfach. Die kannst du nicht planen. Wir haben uns angewöhnt, auf jede Einladung mit ‚ja!‘ zu antworten. Dann entstehen die besten Gespräche, Situationen und Erfahrungen“ erzählt Merle. In diesen Momenten zeigt sich, dass Urvertrauen oft dort wieder erwächst, wo Kontrolle verschwindet. Auch Großhans beschreibt, wie einfache Gesten, ein geteiltes Mahl, ein Platz zum Schlafen, ein lokaler Wegweiser, ihm gezeigt haben: Diese Reise ist möglich. Und die Menschen helfen mir. Dieses Erleben von Verbundenheit wird für viele zur wichtigsten Erkenntnis ihrer Reise.

Frau und FrauNeue Freundschaften in anderen Ländern (Foto: Merle Schäfer)

Ein meditativer Lebensstil

Bikepacking vereint körperliche Bewegung mit mentaler Klarheit. Es steht sinnbildlich für das stetige „Vorankommen“, jene rhythmische Einfachheit des Unterwegsseins, die auch Wandernde kennen. Eine Umdrehung der Pedale folgt der nächsten, der Weg gestaltet sich Schritt für Schritt. Diese kontinuierliche Bewegung, verbunden mit dem täglichen Planen und Improvisieren, schärft die Selbstwahrnehmung und schafft einen Zustand innerer Ruhe. Viele erleben darin Sinn und Ruhe, ein psychologisch stabilisierendes Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Achtsamkeit.

Merles größte Erkenntnis aus dem Bikepacking ist, dass Sorgen sich meist nicht lohnen – und dass es immer einen Plan B gibt. Ein prägendes Beispiel dafür war ihr Thailand-Visum: Drei Wochen vor der Einreise beantragt, kam es selbst vier Stunden vor Abflug noch nicht an. „Ich war völlig gestresst und dachte nur: Super, das war’s jetzt“, erzählt sie. Statt in Panik zu verfallen, entschieden sie und ihr Mann spontan, nach Thailand zu fliegen und dort zu warten. Einige Tage später kam das Visum – doch sie waren längst in Vietnam und erlebten, wie Merle sagt, „die vielleicht schönsten Wochen unserer Reise“.

Für Merle zeigen diese Erfahrungen vor allem: Flexibilität ist alles. Und weiter: „Meine Haltung und Einstellung bestimmen meine Erfahrung. Anfänglich reiste ich aus der Motivation heraus, vor meinen Problemen wegzufahren. Aber: Wohin du auch gehst, du nimmst dich mit.“ Auch ihre innere Haltung habe sich verändert. „Eine positive Grundhaltung und eine Prise Humor verändern einfach alles. Da sind die Vietnamesen uns weit voraus. Vielleicht sollten auch wir schiefes Karaoke als Teil unseres Kulturguts einführen. Stop mit heimlich unter der Dusche singen!“

Frau mit LockenEin Leben in Freiheit. (Foto: Merle Schäfer)


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