Der Wind pfeift über die karge Landschaft und bringt eine Meeresbrise mit. Von der Bushaltestelle sind es noch mehrere Kilometer Fußweg zum Ziel. Landarbeiter sind mit der Aussaat beschäftigt. Langsam bilden sich am Horizont Strukturen heraus, eine weitläufige Ansammlung von Gebäuden aus gelbem Backstein, am Rand ein großes Gewächshaus. Auf den ersten Blick wirkt die offene Justizanstalt Tygelsjö wie ein Bauernhof, der sich nahtlos in die Nachbarschaft einfügt. Nur die Schilder am Straßenrand machen klar, Tygelsjö ist ein offenes Gefängnis. Ein Gefängnis ohne Gitter und ohne Mauern, in dem die Freiheit ständig verlockend winkt.
„Die fehlenden Mauern im offenen Vollzug stehen für Vertrauen und Eigenverantwortung. Wer flieht, verspielt die Chance auf ein geregeltes Leben mit Krankenversicherung und familiären Kontakten“, sagt die Klagenfurter Gefängnispsychologin Doris Rogatschnig.
Håkan Tullberg, Anstaltsleiter von Tygelsjö, erklärt das Fehlen von Fluchthindernissen ähnlich. Ausbrecher würden meist rasch gefasst oder von selbst zurückkehren. Zudem sind die Häftlinge leichte Fälle, die viel zu verlieren hätten. Tygelsjö ist im schwedischen Strafvollzug der letzte Schritt vor der Freilassung. Niemand bleibt dort länger als drei Jahre.
Gegründet 1984 liegt das Gefängnis Tygelsjö im Süden Schwedens, knapp zehn Kilometer von Malmö entfernt. Heute ist es eine reine Männeranstalt der Sicherheitsstufe 3, was heißt eine Einrichtung ohne Fluchtbarrieren. Schweden hat 16 offene Anstalten. Am Ende ihrer Haft landen alle Straftäter in einem davon. Jede offene Anstalt in Schweden hat ihre besonderen Merkmale. In Tygelsjö ist es die Gärtnerei, anderswo Holz- oder Metallhandwerk. Die Landarbeiter waren Häftlinge, das Gewächshaus betreuen sie ebenfalls. Sie trocken und reinigen etwa frische Tulpenzwiebeln aus den Niederlanden und verkaufen sie zurück an die Blumenmärkte.
In Österreich findet der offene Vollzug oft innerhalb größerer Anstalten statt, nur die Außenstelle Rottenheim der Justizanstalt Klagenfurt, ein Bauernhof, ist ähnlich aufgebaut wie Tygelsjö.
Das Gewächshaus in Tygelsjö ist verlassen, die Insassen sind beim Mittagessen. (Foto: Lara Asmus)
Ein Blick auf Kosten und Rückfallquoten zeigt die unterschiedlichen Strategien in Schweden und Österreich. Schweden gibt 321 Euro pro Insasse täglich aus, Österreich nur 168 Euro. Rückfallquoten liegen in Schweden laut Landesstatistikamt bei 41 Prozent (2018: 27,1 Prozent), in Österreich stabil bei rund 30 Prozent. In beiden Ländern dienen Vollzugslockerungen der behutsamen Eingewöhnung in die Freiheit.
Der Leitsatz des schwedischen Justizsystems lautet „besser draußen als drinnen”. Schwedens Ziel ist eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Den Klienten, wie Schweden seine Häftlinge betitelt, soll es „besser gehen”. In Österreich hingegen ist der Leitgedanke „Täterarbeit ist Opferschutz“. Die Auseinandersetzung mit den Tätern schützt potenzielle Opfer durch Vorsorge statt Strafe.
Der offene Vollzug in Tygelsjö basiert auf Vertrauensbasis und Eigenverantwortung, die Aufnahmebedingungen sind strikt: gutes Verhalten, kein Drogen- oder Alkoholgebrauch und ein psychologischer Eignungstest. In Tygelsjö sitzen keine Sexual- oder innerfamiliären Straftäter ein.
„Der schwedische Justizvollzug ist in manchen Belangen strenger reguliert, gleichzeitig investieren die Mitarbeiter intensiv in die Betreuung der Klienten und streben so eine erfolgreiche Resozialisierung an“, erklärt Rogatschnig, die ein zweimonatiges Praktikum im schwedischen Vollzug machte. Schwedische Mitarbeiter verhalten sich gemäß dem Spruch „persönlich aber nicht privat“ und bleiben so auf Distanz mit den Häftlingen. Rogatschnig findet, in österreichischen Gefängnissen sei der Umgang mit den Häftlingen persönlicher als in Schweden.
Der Anstaltsleiter steht mit Mitarbeitern vor dem Gebäude. (Foto: Lara Asmus)
Stolz zeigt der Anstaltsleiter Tullberg auf den weitläufigen Innenhof mit Spielplatz. Der Spielplatz sei für die jungen Besucher der Insassen. Daneben liegt die von vielen Füßen flach getretene Laufstrecke mit Blick auf die weite Landschaft. Der innere Gehorsam hält die Inhaftierten davon ab, das Gelände zu verlassen.
Die Hochbetten sind ordentlich hergerichtet, auf den Tischen und Regalen liegen Telefone. Aus Gründen des Datenschutzes darf in den Wohnräumen nicht fotografiert werden. Tygelsjö sieht aus wie ein Studentenwohnheim, viele Gemeinschaftsräume, etwas chaotisch aber mit einem Auge fürs Detail eingerichtet. Die Wände zieren Malereien, Gedichte und Basteleien, es gibt Freizeitangebote wie Bingo, Fußball oder Volleyball. Die älteste Wohneinheit von Tygelsjö ist besonders gemütlich, selbstgehäkelte Hüte baumeln über dem Eingang, um den Eintretenden zu erinnern, die Kopfbedeckung abzunehmen.
Gehäkelte Hüte baumeln über der Tür, eine gemütliche Wohnung im Hintergrund. (Foto: Lara Asmus)
Hinter der wohnlichen Fassade steckt ein streng geregelter Alltag. Wer nicht zur Arbeit kommt, muss mit Strafe rechnen. Wer nach dem Freigang mit dem Auto, statt mit den vorher besprochenen Öffentlichen Verkehrsmitteln zurückkehrt, spürt Konsequenzen. Für die anstaltseigenen Hühner ist nur ein Insasse zuständig, die Übrigen dürfen sich dem Hühnerstall nicht nähern. „Für Insassen ist das strukturierte Leben im Vollzug oft hilfreich, um wieder in einen geregelten Tagesablauf hineinzukommen, um sich ein neues Leben aufbauen zu können“, sagt Rogatschnig.
Disziplin und Gehorsam sind zentral im Gefängnisalltag, „jemand, der beispielsweise an Depressionen oder Alkoholsucht erkrankt ist, profitiert vom geregelten Aufbau des Vollzugs“, sagt Rogatschnig.
Ein Wohngebäude in Tygelsjö. (Foto: Lara Asmus)
Sich mit den eigenen Schwächen und Verletzlichkeiten auseinanderzusetzen, fällt niemandem leicht. In Tygelsjö ist das Pflicht. Jeder Insasse macht eine sechswöchige kognitive Gruppentherapie. Dort erledigen die Männer Hausaufgaben, denken über sich selbst nach und teilen persönliche Erfahrungen.
Damit die Therapie fair bleibt, probieren die Mitarbeiter neue Methoden zuerst untereinander aus. Die Sozialarbeiter sagen, der Prozess ist für sie genauso hart wie für die Insassen. Sie begleiten die Männer, wenn sie sich mit ihrer Vergangenheit und ihrem Verhalten auseinandersetzen. Vor der Entlassung werden alle Klienten noch einmal für dreißig Tage untersucht. So wird festgestellt, ob die Zeit im Gefängnis seelische Folgen hinterlassen hat.
Malereien bedecken die Wände. (Foto: Lara Asmus)
In Österreich gibt es keine Pflicht zur Therapie, nur Frauen und Minderjährige erhalten immer psychologische Betreuung. Vollzugsbeamte beobachten die Insassen und kontaktieren bei auffälligem Verhalten die Anstaltspsychologen. Besonders der gelockerte Vollzug geht aber mit einem psychologischen Gutachten einher und Lockerungsbedingungen sind individuell zugeschnitten. „Der Mensch geht (auch im österreichischen Vollzug) nicht verloren”, betont Rogatschnig.
In Tygelsjö wiederum hat jeder Mitarbeiter ein klar abgegrenztes Aufgabenfeld. Es gibt Klientenbetreuer, Programmleiter, Bewährungshelfer, Justizvollzugsinspektoren und Produktionsleiter. Gefängnisinterne im Strafvollzug entwickelte, wissenschaftliche Programme tragen zur Weiterentwicklung der Belegschaft bei. Die durchgehende Weiterbildung fand Rogatschnig bei ihrem Besuch in Schweden vorbildlich. Alle Mitarbeiter sind persönlich für einzelne Insassen zuständig, so stellen die schwedischen Behörden die lückenlose Betreuung aller Klienten sicher.
Was den schwedischen Vollzug besonders macht, zeigt sich in vielen kleinen Dingen, zum Beispiel wie Insassen verpflegt und in den Alltag eingebunden werden.
Wie die britische gemeinnützige Organisation Food Behind Bars forscht, spielt eine freiere Wahl bei der Ernährung eine große Rolle im positiven Selbstbild von Inhaftierten. Rogatschnig begeisterte vor allem das gute Essen in den schwedischen Anstalten: „Kritik aus der Bevölkerung gibt es in Schweden und Österreich gleichermaßen, aber als luxuriös empfinde ich das schwedische System keinesfalls.” In Schweden spötteln Wirtshausbesucher, das Essensangebot hinter Gittern sei besser als in Seniorenheimen. In Österreich tauschen sich Häftlinge nach dem Freigang sehnsüchtig darüber aus, was für Essen sie draußen genossen haben.
Der Kontakt mit der umliegenden Bevölkerung sei psychologisch wertvoll, so Rogatschnig, in Stockholm komme beispielsweise regelmäßig die Stadtbibliothekarin für einen Büchertausch vorbei. Die Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz oder Kontakt mit Ehrenamtlern ist vom Vollzug in Schweden vorgesehen und gefördert. In Tygelsjö, dem Gefängnis mit Hofladen, kaufen Stammkunden Gartenzubehör, Werkzeuge oder andere handgemachte Objekte, Made in Jail (angefertigt im Gefängnis), ein. Die Anwohner können hier direkt von den Insassen handgefertigte Weihnachts- und Osterdekorationen erwerben.
Bunte Osterdekoration steht im Hofladen zum Verkauf. (Foto: Lara Asmus)
Obwohl Schweden mit innovativen Ansätzen im Strafvollzug, wie etwa Programmen zur Gewaltprävention, vorangeht, bestehen weiterhin strukturelle Herausforderungen. Ein Beispiel dafür ist die Initiative „Hör auf zu schießen“ (Sluta Skjut) in Malmö, die gezielt Bandenmitgliedschaften durch Abschreckung verhindern soll. Dennoch werfen die steigende Zahl an Verurteilungen und die zunehmende Belastung der Justizanstalten Fragen zur Wirksamkeit solcher Programme auf.
In Tygelsjö arbeitet ein erfahrenes, eingespieltes Team. Trotzdem stellt die aktuelle Lage im schwedischen Strafvollzug das Team vor neue Herausforderungen. Besonders in Malmö gibt es ein Bandenproblem, und die Kriminalitätsrate ist in den letzten Jahren gestiegen.
Eine langjährige Klientenbetreuerin bestätigt, es gibt im schwedischen Vollzug bislang keine wirksamen Wiedereingliederungsprogramme für Bandenmitglieder. Sie ist frustriert über die zunehmenden Aggressionen und Unruhen unter den Häftlingen. Tygelsjö ist stark überbelegt: Die Kapazität von 104 Insassen wurde auf 140 erhöht. Jeder Mitarbeiter betreut nun 13 statt der ursprünglichen 8 Insassen. Dadurch sei es kaum noch möglich, gute Arbeit zu leisten und die Klienten wirkungsvoll zu resozialisieren, sagt die erfahrene Sozialarbeiterin.
Ein Schild trennt das Gefängnis von der Außenwelt. (Foto: Lara Asmus)
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