Wien | Gesundheit | Meinung | Chronik | Kultur | Umwelt | Wirtschaft | Politik | Panorama
InternationalAlbanienFakten

Träume im Transit: Warum Albaniens Jugend weg will

Rund ein Drittel der albanischen Jugend will weg, um sich anderswo zu verwirklichen. Andere schwören auf die Heimat. Wo verlaufen die Trennlinien?
Anja Wohlfahrt  •  29. Oktober 2025 Volontärin    Sterne  42
Albaniens Jugend kämpft mit Perspektivlosigkeit (Foto: Anja Wohlfahrt)
X / Twitter Facebook WhatsApp LinkedIn Kopieren

„Ich würde dieses Land entweder verlassen oder dafür kämpfen, um es besser zu machen.“ So beschreibt der 16-jährige Selim seine Zukunft in Albanien. Ein Land, in dem er aufgewachsen ist, in welchem er aber keine Perspektiven sieht. Rund 36 Prozent der jungen Menschen in Albanien wollen derzeit ins Ausland gehen. Die Gründe: wenig Möglichkeiten, niedrige Löhne und der Wunsch nach Selbstverwirklichung. Gleichzeitig gibt es Menschen wie die 24-jährige Eni, die trotz begrenzter Chancen bleibt, weil sie sich mit ihrem Land verbunden fühlt und ihre Familie und ihr Freund hier leben. Sie hofft auf Veränderung. Die Antwort auf die Frage „bleiben oder gehen, hoffen oder aufbrechen“ entscheidet nicht nur über das Leben Einzelner, sondern über die Zukunft eines ganzen Landes. Denn die Abwanderung führt zunehmend zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen im Land.

Selim sitzt mir gegenüber auf einem Sessel und spielt am Etikett seiner Plastikflasche. Sobald der 16-Jährige die Schule und sein Studium abgeschlossen hat, will er Albanien verlassen.

Wäre ein Studium im Ausland nicht so teuer, wäre er schon früher weg. Er kommt aus einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Tirana, wo er mit zwei Schwestern aufgewachsen ist. Die eine arbeitet in Tirana, die andere ist, wie er erläutert, „verheiratet“. Korruption, geringe Löhne und vor allem die Mentalität der Albaner, sind die Gründe, warum er weg will.

Albaniens Abwanderung im Vergleich

In Albanien haben laut der „Youth Study – Southeast Europe 2024“ der Friedrich-Ebert-Stiftung rund 36 Prozent der jungen Leute einen sehr starken oder starken Wunsch, auszuwandern. Wer mit den Menschen hier spricht, bekommt allerdings den Eindruck, es seien 100 Prozent.

Zum Vergleich: In Griechenland sind es circa 30 Prozent, in Bulgarien knapp 18 und in Serbien rund 25 der 14 bis 29-Jährigen. Hauptsächlich wandern die Albaner in die EU-Länder aus, aber auch die Migration innerhalb der Region ist weit verbreitet. Dabei wandern auch viele junge Menschen mit Universitätsabschluss aus.

Selim will weg

Selim kenne ich durch seine Lehrerin. Ich war auf der Suche nach einem jungen Menschen, der auswandern möchte, und ging dafür zur Pyramide von Tirana. Ursprünglich hätte hier der ehemalige Diktator Enver Hoxha beerdigt werden sollen. Heute ist das Gebäude ein Symbol für die Zukunft: Es wurde zu einem Zentrum für Technik und Innovation.

Pyramide von Tirana (außen)Pyramide von Tirana (außen) (Foto: Anja Wohlfahrt)

Viele junge Leute kommen hierher, um kostenlose Kurse etwa im Programmieren zu besuchen. Am heutigen Samstag findet hier ein Debattierwettbewerb statt. Draußen strahlt die Sonne, drinnen rattern die Köpfe der Schüler. Rund vierzig höhere Schulen nehmen teil. Als ich eine Gruppe von Lehrerinnen fragte, ob es vielleicht Schüler gäbe, die auswandern wollen, entgegnete die eine: „Wahrscheinlich alle.“

Pyramide von Tirana (innen); bunte, moderne ArchitekturPyramide von Tirana (innen); heute ein Zentrum für Technik und Innovation (Foto: Anja Wohlfahrt)

Eine halbe Stunde später saß mir Selim gegenüber. Ihm macht vor allem die Mentalität der Menschen hier zu schaffen. Ihretwegen könne er nicht die beste Version seiner selbst sein. Woanders hingegen sei das möglich. In Albanien sei die Mentalität veraltet. „Wenn du ihnen von deinen Träumen erzählst, dich so verhältst und ausdrückst, wie du bist, dann verurteilen sie dich und vermitteln dir ein schlechtes Gefühl.“ Ich frage ihn, ob er sich in Albanien zuhause fühlt. „Nein.“, sagt er, ohne zu zögern. Er glaubt, dass er sich in einem anderen Land mehr zuhause fühlen würde und sich dort selbst finden könnte. Albanien hat er bis jetzt noch nie verlassen.

Eni will bleiben

Eni hingegen war schon oft im Ausland. Für Meetings, Konferenzen und auf Urlaub. Ihre Eltern wollten sie mit 15 Jahren nach Italien in eine Schule schicken, weil dort die Ausbildung besser sei. Die 24-Jährige lehnte das strikt ab. Sie wollte und will heute noch in Albanien bleiben, um jeden Preis.

Die Chancen, in ihrer Branche einen Job zu finden, sind gering. Sie ist im Umweltbereich tätig. Ein kleiner Sektor. Selim dagegen meint, er könnte ganz leicht ein Hotel außerhalb Albaniens eröffnen. Der Tourismus boome seit einigen Jahren. Jobaussichten hat er also, trotzdem will er weg.

Das Einzige, was er vermissen würde, wären seine Familie und seine Freunde. Eni will genau ihretwegen und wegen ihres festen Freundes im Land bleiben.

Albanien ist Enis Heimat

Das erste Mal, dass ich Eni sah, war mitten auf der kleinen Seitenstraße, umgeben von teils provisorischen Marktständen. Mit ihren rötlichen Haaren, die zu den Seiten in zwei geflochtenen Zöpfen abstehen, sieht sie aus wie Pippi Langstrumpf. In ihrem Gesicht sind aufgemalte Sommersprossen und um ihre Augen ist ein starker Eyeliner gezogen. Eni fühlt sich in Albanien zuhause. Sie ist in Tirana geboren und aufgewachsen. Die Kultur, das Herzliche der Menschen sind Teil ihres Lebens. Sie kennt ihre Nachbarn, alle sprechen dieselbe Sprache, haben denselben Humor und denselben Lifestyle. Woanders könnte sie sich nicht so ausdrücken, wie sie es hier kann. „Hier zu leben ist ein bisschen schwierig, aber es ist auch schwierig, wenn du gehst.“

Markt auf einer Straße mit Lebensmittelständen, Verkäufern und KundenAuf diesem Markt habe ich Eni zum ersten Mal gesehen (Foto: Anja Wohlfahrt)

Zwischen Umzugskartons

Wir sitzen im Büro von „EcoAlbania“, einer Umweltorganisation, die sich unter anderem für den Vjosa-Fluss in Albanien einsetzt. Um uns herum stehen viele Umzugskartons. Die Firma wird demnächst umziehen, weil der Geschäftsführer die Büroräumlichkeiten, die eigentlich ein normales Apartment sind, wieder zum Wohnen nutzen will.

Eni und ich sitzen an einem großen braunen Holztisch, in einem Raum mit anschließender Küche, der in Zukunft vermutlich wieder zu einem Wohnzimmer wird. Im Hintergrund summt der Wasserspender. Ich frage sie, was sie damit meint, dass es schwierig ist, hier zu leben. Sie erklärt, dass sie mit ihrer Ausbildung in anderen Ländern schon längst gute Jobangebote hätte. Sie hat zuerst ihren Bachelor und dann ihren Master gemacht. Jetzt will sie ihren PhD machen. Eine Studienkollegin von ihr hat ein gutes Angebot bekommen und ist dafür nach Wien gezogen.

Ein Großteil der jungen Albaner sieht eine Ausbildung im Ausland als die beste Chance. Ihre Professoren raten Eni, für ihren PhD woanders hinzugehen. In Wien und Deutschland gäbe es viele Angebote. Sie möchte aber hierbleiben. „Gibt es hier keine Möglichkeiten?“, fragt sie ihre Professoren. „Nein, nicht wirklich.“ Sie setzt ein Jahr aus und arbeitet währenddessen bei „EcoAlbania“. Ob die Situation in einem Jahr anders aussieht, wird sich zeigen.

Hoffnung und Widerstand

Trotz Schwierigkeiten möchte sie es hier versuchen. Wie nimmt sie die Probleme im Alltag wahr? „Du kannst manchmal definitiv spüren, wie unfair alles ist.“ Nicht im täglichen Leben, aber wenn sie sich hinsetzt und darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass es hier nicht viele Möglichkeiten gibt. Vor allem während ihres Studiums bemerkte sie das. Sie war eine der Klassenbesten und in anderen Ländern gäbe es genügend Optionen, hier muss sie darum kämpfen. Vor allem im Umweltbereich ist es schwierig. Am liebsten würde sie im Research-Bereich arbeiten, dafür seien aber kaum Stellen vorhanden.

„Meine Eltern, mein Freund, alle sagen, ich bin blöd, weil ich hierbleibe. Aber ich werde nicht auswandern, bis jede einzelne Option ausgeschöpft ist.” Auch wenn das bedeutet, in einer ganz anderen Branche zu arbeiten, will sie bleiben. Enis Freund wäre bereit, mit ihr in ein anderes Land zu ziehen, und auch ihre Freunde suchen nach Möglichkeiten im Ausland. Ihr soziales Umfeld und die Heimatverbundenheit halten sie jedoch davon ab, das Gleiche zu tun. Das sind allerdings nicht die einzigen Gründe, warum sie bleiben will. Hoffnung und ihr Engagement für die Umwelt spielen auch eine Rolle.

Albaniens Müllproblem

Bei einer Stadttour stehen sechs deutsche Touristen in einem Kreis um den Tourguide Françesko . Er erläutert die zwei größten Probleme Albaniens. Erstens, wenig überraschend, Korruption und zweitens, unerwarteterweise, Müll. Zuerst denke ich an die Müllentsorgung, doch er spricht vor allem von der Verschmutzung. Mir fiel dieses Problem bis jetzt nicht auf, im Gegenteil, ich hatte sogar den Eindruck, dass Tirana eine eher saubere Stadt ist.

„Es gibt drei Arten von Menschen“, sagt Françesko . „Erstens die, die ihren Müll trennen. Zweitens die, die wissen, der Müll muss in den Mistkübel, aber wenn keiner schaut, werfen sie ihren Mist irgendwohin auf den Boden. Und drittens die, die sich denken: ´Ich bezahle die Stadt, ich werfe meinen Müll hin, wo ich will.´ Sie denken nicht an die Zukunft.“ Ironischerweise wirft ein Kind hinter Françesko , gerade als er uns das erzählt, ein Feuchttuch ins Gebüsch. Die Mutter bemerkt es, sagt aber nichts dazu und hebt das Tuch auch nicht auf.

Seit Françesko dieses Thema angesprochen hat, fällt mir auf, dass Tiranas Straßen zwar recht müllfrei sind, die Büsche oder Stellen abseits des Gehweges aber mit Müll gespickt sind. Generell sagen mir alle, mit denen ich darüber spreche, dass das Thema Umwelt einen geringen Stellenwert in Albanien hat. Dabei ist das Land bekannt für seine schönen Landschaften und die unberührte Natur.

Aussicht aufs Tal mit einem kleinen See, umringt von BergenAussicht von einem Berg in Tirana (Foto: Anja Wohlfahrt)

Umweltschutz als Bleibeperspektive

Eni hat erst während ihres Studiums so richtig begonnen, sich für die Umwelt zu interessieren und zu realisieren, wie mit ihr umgegangen wird. Mittlerweile ist der Umweltschutz einer der Gründe, warum sie bleibt. „Man muss bleiben und sich für die Umwelt einsetzen“, aber es sei auch schwierig, weil sie und die Menschen generell dazu tendieren, sich auf ihr eigenes Leben zu fokussieren und der Umweltgedanke dabei in den Hintergrund rückt.

In meinen fünf Tagen in Tirana fällt mir kaum Umweltbewusstsein auf: Mülltrennung gibt es quasi nicht, Plastiksackerl sind allgegenwärtig, Autos und alte Busse prägen das Straßenbild. Ständig staut es auf den Straßen. Die Luft ist dann ganz stickig von den Abgasen. Für eine U-Bahn fehlt laut dem Stadtführer Françesko das Geld.

Autos die im Stau stehenAutos und Busse prägen Tiranas Stadtbild (Foto: Anja Wohlfahrt)

Eni glaubt nicht, dass Umweltschutz ein Grund ist, um in Albanien zu bleiben, außer für bestimmte Personen, die einen Job in dem Bereich finden. Dass Aktivismus im Sinne von „die allgemeine Situation in Albanien verbessern“ einen Bleibegrund darstellt, halten Eni und Selim für wahrscheinlicher.

Was muss sich ändern?

Ich frage die beiden, was sich ändern müsste, damit mehr junge Menschen hierbleiben würden. Selim nennt drei Dinge. Politische Verbesserungen, keine Korruption mehr und eine offenere Mentalität. Eni nennt drei andere Punkte. Sie denkt an eine Zukunft, möglicherweise mit Kindern. Dafür notwendig seien ein besseres Schulsystem, leistbare Wohnungen und Häuser und mehr Arbeitsmöglichkeiten, mehr Jobs. Im Grunde wollen die beiden dasselbe. Eine Zukunft, die ihnen ein gutes Leben mit vielen Möglichkeiten bietet.

Damit sind sie nicht allein. Die Mehrheit der jungen Albaner wandert aus, weil sie nicht genügend Perspektiven in Albanien haben. Weitere Gründe sind ein höherer Lebensstandard in anderen Ländern und ein fehlendes adäquates Gesundheitssystem sowie zu wenig Sicherheit und politische Stabilität im eigenen Land.

Ich frage sie, ob die Politik aktuell etwas dafür tut, um die jungen Menschen im Land zu behalten. Stichwort „brain drain“ und die Folgen daraus. Sie meinen „nein.“ Das sieht die Online-Zeitung „Revista Monitor“ in Albanien genauso. Albanien hätte keine wirksame Politik, um seine Bürger im Land zu behalten beziehungsweise um sie zurückzuholen.

Hoffnung auf einen Leader

Eni, ihre Freunde, offenbar die ganze Generation ist unzufrieden mit der derzeitigen Situation und wünscht sich Veränderung. Dann würden sie auch hierbleiben.

Doch wie kommt es, dass niemand aufsteht und etwas ändert? Die Leute hätten sich daran gewöhnt. Korruption ist normal, Stagnation genauso. Eni kann verstehen, warum die Leute auswandern. Aber sie fragt sich auch: „Wenn ihr geht, wer wird die Veränderung herbeiführen?“

Der leere Hauptplatz von Tirana mit Fliesen aus unterschiedlichen SteinenDer leere Skanderbeg-Platz in Tirana scheint wie eine Metapher für das immer leerer werdende Albanien (Foto: Anja Wohlfahrt)

Eni wünschte, ihre Freunde und all die anderen jungen Leute würden manchmal bleiben und es härter versuchen. Sie glaubt, es braucht einen Leader. Jemanden, der alle zusammenbringt. Auch Selim denkt so. Es brauche eine Gruppe von Menschen, die große Träume haben, die Potenzial haben und andere dazu ermutigen, aufzustehen und etwas zu sagen.

Schon in der Vergangenheit gab es Proteste, um die Situation an Schulen zu verbessern. Junge Leute aus dem ganzen Land, auch Eni haben mitgemacht und auf das Problem aufmerksam gemacht. Am Ende haben sie sogar kleine Fortschritte erzielt. Es sei noch nicht perfekt, aber immerhin gab es eine kleine Verbesserung.

Wieso macht keiner den Anfang, wenn alle unzufrieden sind? Selim meint, aus Angst, Eni meint, aus Resignation. Angst, dass es nicht funktionieren wird und das eigene Leben am Ende ein Chaos ist. Resignation, weil es ja schon versucht wurde und es ohnehin nichts bringen würde. Es sei einfacher, sich an einem Abend in der Bar über die Situation zu beschweren. Außerdem hat Eni den Eindruck, zum Beispiel durch ihre viel jüngeren Cousins, dass die neue Generation kein Interesse daran hat, etwas aktiv zu tun und laut zu werden, um eine Veränderung herbeizuführen.

Dennoch hofft sie auf einen Leader. Sie und Selim würden beide an Protestbewegungen teilnehmen, wenn es welche gäbe. Vielleicht liegt es am Altersunterschied der beiden, vielleicht an ihren bisherigen Erfahrungen, vielleicht an etwas ganz anderem, aber Eni hofft zwar, dass ihre Generation die sein wird, die einen Unterschied macht, glaubt aber nicht wirklich daran. Trotzdem bleibt sie. Selim dagegen sieht Potenzial in seiner Generation und denkt, sie könnte etwas verändern, will aber gehen.

Compliancehinweis: Dieser Beitrag ist im Rahmen von „eurotours 2025“ entstanden, einem Projekt des Bundeskanzleramtes, finanziert aus Bundesmitteln.


campus a-Preis für Nachwuchsjournalismus

Werde Teil der campus a-Redaktion!

Verfasse auch du einen Beitrag auf campus a.

Empfehlungen für dich

Kommentar
0/1000 Zeichen
Advertisement