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Senioren-WGs: Spaß und Probleme wie bei den Studenten

Brettspiele und 80er-Jahre-Hits: Während einer Senioren-WG-Party hat sogar einmal die Polizei wegen Lärmbelästigung vorbeigeschaut. Auch sonst ähnelt in den Wohngemeinschaften der Alten manches jenen der Studenten. Porträt einer Lebensform für die späten Jahre.
Lara Hassler  •  17. Juli 2025 Redakteurin    Sterne  440
Merlind Raible  •  17. Juli 2025 Volontärin    Sterne  46
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Beim Betreten der sechsköpfigen Senioren-WG in Wien, Ottakring kommen Erinnerungen an Studentenzeiten auf. An den Wänden hängen Fotos von gemeinsamen Ausflügen, drei Bewohnerinnen essen zusammen Mittag. Einziger Unterschied zur Studenten-WG: Angestellte des Sozialen Hilfsdiensts gehen ein und aus, erledigen Einkäufe, helfen beim Haushalt und bei den Medikamenten. 

Die Schlafzimmer sind mit persönlichen Gegenständen eingerichtet. Momentaufnahmen aus dem Leben der Bewohner. Eines ist voll mit Bestseller-Romanen der vergangenen Jahrzehnte. „Ich bin eine Leseratte. Es gibt Tage, an denen mache ich nichts als lesen“, sagt die Bewohnerin des Zimmers, Helga K. Sie kommt aus Vorarlberg und lebte mit ihrem Mann Jahrzehnte lang auf den Kanarischen Inseln. Nach seinem Tod suchte sie die Nähe zu ihren Kindern in Wien. Sie wollte nicht allein wohnen und entschied sich für eine Senioren-WG der Wiener Sozialdienste.

Senioren-WGs seit mehr als dreißig Jahren

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bieten die Wiener Sozialdienste Unterstützung für bedürftige Menschen. Seit mehr als dreißig Jahren gibt es für ältere Menschen das Angebot, in eine betreute WG zu ziehen. „Heute stehen insgesamt 44 Plätze zur Verfügung. Im Moment sind davon 42 belegt“, erzählt Sonja Brunner, Klinische und Gesundheitspsychologin und Leiterin der Einrichtung. Die Bewohner sind 56 bis 85 Jahre alt. Es haben aber auch schon über 90-Jährige hier gewohnt. 

„Voraussetzung für den Einzug sind das Beziehen einer Pension und Interesse am Gemeinschaftsleben“, erzählt Brunner. Neuzugänge können vier Wochen lang Probewohnen. Das Konzept der Senioren-WG ist erfolgreich. „Die Menschen werden hier offener, aktiver, fitter und haben mehr Freude am Leben als davor, ist unser Eindruck“, sagt Brunner. 

Otto K.s neuestes Gemälde “Der Frühling” ist jetzt auch im Tageszentrum Anton Benya in Meidling ausgestellt. (Foto: Wiener Sozialdienste)

Rentner-Romanzen und Radau

Wie bei Studenten gehören Konflikte aber auch in Senioren-WGs zum Alltag. Einer lässt das benützte Geschirr am Esstisch stehen, ein anderer erscheint im Bademantel zum Abendessen. Benützt eine neue Mitbewohnerin das Herren-WC, kann auch das für Aufruhr sorgen. Neben diesen kleinen Strapazen gibt es auch große. So kann ein frisch verliebtes WG-Paar bei den anderen Mitbewohnern aufs Gemüt schlagen, vor allem, wenn die beiden nur noch Zeit miteinander verbringen wollen und sich aus dem gemeinschaftlichen Leben zurückziehen.

Ob in einer Beziehung oder nicht: Auch Partys feiern die Senioren. Statt mit Techno-Beats und Bierpong machen sie das aber mit 80er-Hits und Brettspielen und verärgern damit manchmal auch ihren Nachbarn. „Einmal hat sogar wegen Lärmbelästigung die Polizei vorbeigeschaut“, erzählt Brunner. Eine WG-Bewohnerin zuckt mit den Schultern: „Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben.“

Hohes Alter, moderner Geist

Brunner zeigt sich von den Einstellungen der WG-Bewohner beeindruckt. „Die Menschen sind in den vergangenen Jahren toleranter geworden“, sagt sie. Insbesondere in puncto Rollenbilder und Umweltbewusstsein habe sich das Denken zum Positiven verändert.

Einige WGs haben sich vor der Weihnachtsfeier aus Umweltgründen gegen einen echten Christbaum entschieden. Auch Mülltrennung hat für die Bewohner Priorität. Es findet schon fast eine Wettmülltrennung statt. „Wir sind die einzige WG, die den Müll ganz korrekt trennt“, meine etwa eine Bewohnerin, während eine andere WG betont, die neuen PET-Flaschen immer konsequenter als alle anderen zu entsorgen. 

Ein zweites Leben

Auch Bewohner Otto K. lässt sich von dem modernen Geist inspirieren. „Am Anfang wollte ich gar nicht hier sein“, erzählt der 68-Jährige. Nach dem Tod seiner Ehefrau war es seine Zwillingsschwester, die ihn aus seiner Einsamkeit holte und ihn überredete, das WG-Leben zu probieren. Sechzehn Jahre später sitzt er campus a in seinem WG-Zimmer in Ottakring gegenüber. 

Fußball-Bilder säumen die Wand, „Rapid“ prangt in weißen Lettern auf der dunkelgrünen Bettdecke. Er habe selbst zwei Jahre im Verein gespielt, erzählt der Pensionist und lächelt dabei gedankenversunken. Ein Sport, den er nach mehr als drei Hüftoperationen nicht mehr auszuüben imstande sei. Dafür verfolgt er die Meisterschaften jetzt digital. Insbesondere vom Frauenfußball zeigt er sich begeistert.

Besonders gerne verbringt Otto K. seine Zeit im Tageszentrum, das unter anderem Malen anbietet. Sein neuestes Werk: Ein Gesicht aus Früchten nach dem italienischen Vorbild Giuseppe Arcimboldo. Die Farben Rot, Gelb und Orange stechen ins Auge. Blühendes Leben. Doch das Gemälde ist mehr als ein Teil der Kunstausstellung im Meidlinger Tageszentrum. „Der Frühling“, so der Titel, scheint auch bei seinem Maler Otto K. eingezogen zu sein.

Studentisches Flair ab 19 Uhr

Das Blühen findet sich auch im Garten wieder. Hier pflegt Otto K. zusammen mit seinen Mitbewohnern das WG-Gemüsebeet, ein Gemeinschaftsprojekt. Am Küchentisch diskutieren die Mitbewohner aktuelle Themen, veranstalten Kochabende und planen gemeinsame Ausflüge. Haben die Mitarbeiter der Wiener Sozialdienste Arbeitsschluss, haben die Bewohner sturmfrei, zumindest bis sieben Uhr morgens. Bis dahin lebt es sich fast wie in einer Studenten-WG.


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