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Ein amerikanischer Mörder, Rückenschmerzen und ich

Unsere Autorin leidet genetisch bedingt an chronischen Schmerzen, seit sie 17 ist. Die Berichterstattung über den 26-jährigen Luigi Mangione, der den CEO von United Healthcare erschoss, beunruhigt sie: Werden Menschen mit chronischen Schmerzen künftig als potenzielle Gewaltverbrecher gelten?
Sophia Tiganas  •  12. Dezember 2024 Redakteurin      212
Luigi Mangione nach seiner Verhaftung

Im Gang meiner Wohnung steht ein schwarzes Regal, das mit meinen Medikamenten und Orthesen befüllt ist. Es steht genau zwischen dem Wohn- und Schlafzimmer, direkt im Mittelpunkt der gesamten Wohnung. Eine Halskrause, ein faltbarer Gehstock, Bandagen, drei Paare Kompressionshandschuhe und eine breite Palette an weiteren Mobilitätshilfen befüllen den Kasten. Außerdem zwei Schachteln voller unterschiedlicher Schmerztabletten – von rosafarbenem Ibuprofen bis zu übertrieben spezifischen Medikamenten, die ich speziell in der Apotheke bestellen musste. Seit ich 17 bin, durchlaufe ich jeden Tag meines Lebens mit chronischen Schmerzen in meinem gesamten Körper. Es ist eine unglaublich frustrierende Lebensrealität.

Und doch würde ich diesen Frust nie an jemandem auslassen, wie es angeblich der 26-jährige Luigi Mangione getan hat.

Der Mord, der plötzlich zum Gesundheitsdrama wurde

Am 4. Dezember 2024 erschoss ein nicht identifizierter Mann den CEO der US-amerikanischen Versicherungsfirma UnitedHealthcare, Brian Thompson. Anfang der darauffolgenden Woche nahm die New Yorker Polizei den 26-jährigen Luigi Mangione als Verdächtigen für den Mord fest. Das mediale Chaos um ihn begann unverzüglich. Auf einmal wussten alle, welche sozialen Medien Mangione benutzt, wie seine Freunde heißen und welche Bücher er gerne liest. Sein digitaler Fußabdruck hat ihn verraten.

Die digitalen Spuren, die Mangione hinterlassen hat, verdeutlichen noch etwas. Der 26-Jährige litt seit Jahren unter starken chronischen Rückenschmerzen. Sobald diese Information auftauchte, stürzten sich die Medien darauf und verschlangen sie. Die Medien vermuteten rasch, dass dies wohl der Grund hinter der Tat des jungen Mannes gewesen sein könnte. Sogar die Bücher, die er laut seinem Goodreads-Profil gelesen hatte, wurden als Teil dieses Diskurses seziert. Denn auf einmal scheint es ganz seltsam, gar unheimlich, dass ein Mensch mit chronischen Rückenschmerzen zwei Bücher zu diesem Thema gelesen hat. Er müsste wohl von seiner Gesundheit besessen sein.

Chronische Schmerzen als Medienspektakel

Scheinbar passt alles perfekt zusammen. Ein junger, chronisch kranker Mann wettert gegen das System, das ihn ungerecht behandelt. Sowohl die Medien als auch das Internet haben sich darüber massenhaft aufgeregt.

„Was immer wieder zur Sprache kam, ist eine Rückenoperation, die für ihn ‚alles veränderte‘ und ihn ‚völlig verrückt‘ machte“, schildert ein Nutzer der Plattform X nach einem Gespräch mit mehreren Bekannten Mangiones. Online-Medien machen es sich scheinbar auch zum Ziel, Mangione als verrückt darzustellen. Das X-Profil Executive Media berichtet auf der Plattform, Mangione „begann angeblich, Psychedelika zu nehmen, um seine chronischen Schmerzen zu behandeln, verlor den Verstand und beschloss, dass die Krankenversicherer schuld sind.“

Gerade die inflationäre Verwendung von Begriffen wie „verrückt“ und „verlorener Verstand“ wirft einen Schatten auf die Gültigkeit der Erfahrungen von Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden.

Natürlich fragen sich die Menschen, wie es zu einer so drastischen Tat wie einem Mord kommen konnte. Alle suchen nach einer Erklärung. Aber ist die übertriebene Fixierung der Medienberichterstattung auf Mangiones chronische Schmerzen und die daraus resultierende Behinderung wirklich notwendig, oder trägt sie nur dazu bei, bereits schädliche Mythen zu verstärken?

Von Stereotypen und simplifizierten Feindbildern

Menschen mit unsichtbaren Behinderungen werden regelmäßig beschuldigt, ihre Schmerzen aus verschiedenen Gründen vorzutäuschen oder an verschiedenen psychischen Erkrankungen zu leiden, die für die Schmerzen verantwortlich sein könnten. Chronische Krankheiten und unsichtbare Behinderungen stehen gewissermaßen am untersten Ende der medizinischen Nahrungskette. Die Behauptung, ein junger Mann habe alleine wegen seiner Behinderung einen Mord begangen, trägt nur dazu bei, diese bereits weit verbreitete Stigmatisierung zu verstärken.

Diese Aussagen sind zutiefst diskriminierend gegenüber Menschen mit Behinderungen und zeigen ein fehlendes Verständnis für die psychischen Folgen, die das Leben mit dauerhaften Schmerzen haben kann. Es ist wichtig, individuelle Handlungen zu kritisieren, ohne sie zu rechtfertigen. Ebenso ist es von entscheidender Bedeutung, keine verallgemeinernden und pauschalen Aussagen zu machen, die Menschen mit ähnlichen Problemen stigmatisieren.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Internet und die Medien darauf freuen, pauschale und verallgemeinernde Aussagen zu treffen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Auch im Kontext des Nahost-Konflikts wird oft anstelle einer präzisen und differenzierten Kritik an den konkreten politischen Akteuren wie dem israelischen Regime oder der Hamas oftmals eine pauschale Generalisierung vorgenommen. Häufig wird die Diskussion schnell von antisemitischen oder islamophoben Äußerungen überschattet, die die Komplexität des Konflikts ausblenden. Der Diskurs wird vergiftet. Die Bildung von Stereotypen und die Verstärkung von bestehenden Vorurteilen tritt in den Vordergrund. Anstatt sich auf die politischen und sozialen Strukturen zu konzentrieren, die den Konflikt prägen, findet oft die Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Ethnien oder Religionen statt. Diese Verallgemeinerungen erschweren eine sachliche und konstruktive Auseinandersetzung mit den wahren Ursachen und Dynamiken des Konflikts und tragen zur Polarisierung und zum Hass in der Gesellschaft bei.

Wer wird der nächste Täter?

Dasselbe lässt sich auch zu Mangiones Fall sagen. Wenn sich die mediale Landschaft dazu entscheidet, die Behinderungen des Verdächtigen als Hauptgrund für seine Tat zu rahmen, wird eine sachliche Auseinandersetzung mit und distanzierte Kritik an ihm fehlen. Es läuft die Gefahr, dass wir nie die wahren Hintergründe dieses Mordes verstehen werden.

Vielmehr bin ich selbst eine Person mit chronischen Schmerzen. Die genetische Krankheit, die diese verursacht, ist nicht heilbar. Diese Schmerzen werden mich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang begleiten. Und eines Tages, wenn ich jemandem davon erzählen und versuchen werde, diese Person über das Thema aufzuklären, werde ich irgendwie im Hinterkopf Angst haben. Denn ich werde mich fürchten, dass die Antwort „Oha, hatte der CEO-Killer nicht auch chronische Schmerzen?“ sein wird.

Der Platz dieser Autorin in unserer Meisterklasse ist ermöglicht mit freundlicher Unterstützung durch die ÖBB.

 

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