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Wie unabhängig sind wissenschaftliche Gutachter?

Wissenschaftliche Studien sind das Fundament evidenzbasierter Medizin. Eine neue Analyse zeigt, dass mehr als die Hälfte der Peer-Reviewer Zahlungen aus der Industrie erhalten haben. Dies wirft wichtige Fragen auf: Beeinflussen finanzielle Interessen den wissenschaftlichen Prozess? Und wie transparent ist das System? Gesundheitsökonom Thomas Czypionka erklärt, warum Transparenz im wissenschaftlichen Prozess entscheidend ist und wo das System an seine Grenzen stößt.
Anna-Katharina Patsch  •  3. Februar 2025 Redakteurin      50
Foto: Shutterstock

Peer-Reviewer sind das unsichtbare Rückgrat der Wissenschaft. Sie beurteilen die Qualität, Methodik und Relevanz wissenschaftlicher Arbeiten und Studien vor ihrer Publikation. Können sie abweisen, redigieren oder als gut befinden. Ein Honorar bekommen sie dafür nicht. Stattdessen müssen Forschende oft selbst hohe Gebühren zahlen, um ihre Arbeiten in renommierten Journalen veröffentlichen zu können. Das gilt insbesondere bei Open-Access-Zeitschriften, welche weltweit für jeden zugänglich sind. Gleichzeitig nimmt der Peer-Review-Prozess viel Zeit in Anspruch, da Gutachter Manuskripte intensiv prüfen, methodische Schwächen identifizieren und detaillierte Rückmeldungen geben müssen. Monetär profitiert hierbei nur das Fachjournal. Im Gegensatz zu Autoren oder Herausgebern werden potenziellen Interessenkonflikte von Peer- Reviewern seltener öffentlich diskutiert. Ein Grund dafür ist die mangelnde Transparenz ihrer finanziellen Verbindungen.

Die Rolle wissenschaftlicher Journale und der Impact Factor

Fachzeitschriften haben in der akademischen Welt eine zentrale Bedeutung. Ein wichtiger Indikator für ihre Glaubwürdigkeit ist der sogenannte Impact Factor. Er misst, wie oft  andere wissenschaftliche Arbeiten einen Artikel zitieren. Ein hoher Impact Factor signalisiert große wissenschaftliche Relevanz und kann die Karrieren von Forschenden maßgeblich beeinflussen. 

Quantität im Forschungssystem

Doch das System hat Schwächen. Thomas Czypionka beschreibt: 

„Editoren wollen die Bedeutung ihres Journals steigern, also den Impact Factor erhöhen. Daher werden manchmal auch dann Studien veröffentlicht, wenn sie gar nicht so gut im Review wegkommen, aber eine neue oder „sensationelle“ Aussage treffen.“ 

Solche Ergebnisse sorgen für Aufsehen und werden deshalb häufiger zitiert.  „Mittlerweile gibt es viel mehr Journale, als noch vor zwanzig Jahren. Und diese Journale haben dann einfach weniger hohe Standards. Das hat dazu geführt, dass heute leider vieles, was in einem Peer-Review-Journal publiziert wird, ganz schlechte Wissenschaft ist.“ 

Sogenannte Predatory Journals verlangen oft hohe Publikationsgebühren von Wissenschaftlern, bieten aber kaum seriöse Qualitätskontrollen. Solche Entwicklungen verschärfen die Gefahr von Verzerrungen im wissenschaftlichen Diskurs.

Manipulation durch selektive Signifikanz 

Wissenschaftler und Journale legen oft besonderen Wert darauf, dass Ergebnisse eine sogenannte Signifikanzschwelle überschreiten, was die Chancen auf eine Veröffentlichung erheblich erhöht. Gemessen wird die Signifikanz mittels dem sogenannten p-Wert. Jener gibt an, wie wahrscheinlich ein beobachtetes Ergebnis ist, wenn es in Wahrheit keinen tatsächlichen Zusammenhang gibt. In der Forschung gilt oft ein Wert unter 0,05 als „statistisch signifikant“. Studien, die signifikante Ergebnisse präsentieren, haben eine deutlich höhere Chance auf Veröffentlichung. „Häufig zeigen Studien knapp signifikante p-Werte. Dabei ist es naheliegend, dass an den Berechnungen gedreht wurde, sodass das Ergebnis gerade noch signifikant ist“, erklärt Czypionka. In der akademischen Welt gilt das Prinzip publish or perish. Forschende stehen unter Druck, möglichst oft zu publizieren, um Karriere zu machen. „Signifikante Ergebnisse lassen sich leichter publizieren, obwohl es hilfreich wäre, auch zu sehen, wo sich Zusammenhänge NICHT bestätigen.“ Doch viele Studien mit nicht signifikanten Ergebnissen erscheinen gar nicht erst in Fachzeitschriften, was das wissenschaftliche Gesamtbild verzerrt.

Zahlungen im Begutachtungsprozess

Czypionka erklärt, wie strukturelle Probleme den Begutachtungsprozess beeinflussen: „Insofern beeinflussen Zahlungen jedenfalls zumindest die Forschungsagenda.“ Die Finanzierung von Studien bestimme mit, welche Themen erforscht werden und welche nicht. Dies sei jedoch nicht nur auf die Pharmaindustrie beschränkt: „Auch Staaten oder die Europäische Kommission nehmen Einfluss darauf, was beforscht wird – oder eben nicht.“

Zwischen 2020 und 2022 erhielten Peer-Reviewer von The BMJ, JAMA, The Lancet und The New England Journal of Medicine insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar von Pharma- und Medizinprodukteherstellern. Davon entfielen 64,18 Millionen US-Dollar auf allgemeine Zahlungen wie Beratungs- und Vortragshonorare.

„Mit dem Geld kann man natürlich auch Wissen unterdrücken oder kaufen“, erklärt Czypionka weiter. Besonders heikel sei dies in der klinischen Forschung: „Es ist schon vorgekommen, dass man in klinischen Studien erst sehr spät feststellt, dass ein Medikament nicht so gut ist – und dann wird geschaut, wie man das „hinbiegen“ kann.“ Heute gibt es allerdings hohe Standards, die solche künstliche Beeinflussungen verhindern sollen.

Forschung oder Lobbyismus? 

Zahlungen allein bedeuten nicht automatisch einen Interessenkonflikt. Viele Forschungsgelder fließen an Institutionen, um unabhängige Wissenschaft zu finanzieren. Doch das Problem liegt in der fehlenden Transparenz und der möglichen Einflussnahme.

Besonders problematisch sei, dass „es heute eine Vielzahl an Journalen gibt, die nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern aus Kommerzgründen existieren.“ Manche setzen bewusst kurze Begutachtungsfristen, sodass eine sorgfältige Prüfung durch Peer Reviewer kaum möglich ist.

Weiters ist die enge Verbindung zwischen Reviewer und Industrie kaum vermeidbar. Man könne davon ausgehen, dass es in der Medizin kaum jemanden gibt, der nicht irgendwann mit der Pharmaindustrie zusammengearbeitet hat. Die entscheidende Frage sei nicht, ob Zahlungen fließen, sondern wie transparent sie gemacht werden: „Der Vorteil an Industrie-Sponsoring ist jener, dass eben vieles möglich wird, was mit rein öffentlichen Geldern nicht möglich wäre.“

Was sagt die Pharmaindustrie?

Der Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs (PHARMIG) verweist auf Selbstregulierungsmaßnahmen. Laut ihrem Verhaltenskodex (VHC) sind pharmazeutische Unternehmen verpflichtet, geldwerte Leistungen an Gesundheitsfachkräfte offenzulegen.

„Sofern Personen, die in der wissenschaftlichen Begutachtung tätig sind, unter den Begriff der Healthcare Professionals (HCP) zu subsumieren sind, werden Zahlungen an diese daher offengelegt: Dies ist bei Peer-Reviewern in der Regel der Fall,“ erklärte PHARMIG.

Diese Offenlegungen erfolgen jedoch nicht zentral, sondern auf den jeweiligen Unternehmenswebsites. Eine direkte Erfassung von Zahlungen speziell an Peer-Reviewer existiert nicht. „Ob die Mitgliedsunternehmen der PHARMIG Peer-Reviewern beauftragen und folglich einen Vertrag mit ihnen abschließen und diese bezahlen, wissen wir im Detail nicht,“ so PHARMIG weiter.

Wie lässt sich das System verbessern? 

Wissenschaftler und Experten fordern mehr Transparenz und strukturelle Reformen:

Fazit: Vertrauen durch Transparenz

Die Analyse zeigt, dass Interessenkonflikte nicht nur Peer-Review-Prozess existieren, sondern auch im gesamten Publikationsprozess von wissenschaftlichen Studien.  Transparenz und klare Richtlinien sind notwendig, um die Integrität der Wissenschaft zu bewahren. Mehr Offenlegung, faire Bezahlung und unabhängige Strukturen könnten helfen, eine objektive und verlässliche Forschung sicherzustellen.

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