
Sie können ganz schön nerven, diese Menschen, die ihre sexuelle Ausrichtung wie ein politisches Dogma vor sich hertragen. Dann auch noch die Sache mit den Eltern, die ihren Kindern Pubertätsblocker geben, damit sie länger Zeit haben, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Oder die mit den Mädchen, die Männer sein wollen, nur weil es ihre beste Freundin auch will. Oder die mit den Rechtspopulisten und ihren Trittbrettfahrern der politischen Mitte, die das kaum ausgesprochene Unverständnis breiter Bevölkerungsschichten gegenüber all dem für sich nutzen.
Die queere Bewegung mit dem Rückenwind des Rechtsrucks und seiner konservativen Rollenbilder in den Skurrilitätenraum des politischen Museums zu verbannen, wäre aber ein schwerer Fehler. Wir brauchen sie dringender denn je. Wir brauchen sie gerade jetzt, um eine neue Vision von einer besseren, friedlicheren und harmonischeren Welt zu formulieren. Wir brauchen sie, um eine europäische Identität zu stärken, die in Zukunft Wettbewerbsvorteile bringen wird.Wir müssen sie ernster nehmen als je zuvor, und auch sie selbst sollte das tun.
Denn der Regenbogengemeinschaft ging es schon immer um mehr als um die Anerkennung sexueller Ausrichtungen abseits des klassischen Mann-Frau-Bildes. Sie steht für die freie Gesellschaft im Sinne des Humanismus, also für eine Weltanschauung, deren Grundwerte nach wie vor in fast allen nationalen Verfassungen verankert sind: Respekt vor der Würde des Menschen, seiner Persönlichkeit und seinem Leben, Toleranz sowie Gewissens- und Gewaltfreiheit. Sie ist ein Symbol für die offene Gesellschaft, wie der Philosoph Sir Karl Popper sie gemeint hat, für eine der Demokratie, der individuellen Freiheit und des kritischen Denkens. All diese Werte sind in einem Ausmaß bedroht, wie das noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen wäre.
Wer jetzt die queere Bewegung im Stich lässt, arbeitet den Diktatoren, Möchtegern-Diktatoren und ihren Lakaien aus Wirtschaft und Kultur zu. Er gibt nicht nur eine Lebensanschauung auf, sondern auch ein Grundgefühl, das die liberalen Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gemacht und ihre Menschen zum Wohlstand geführt hat.
Klar, diese Bewegung versteigt sich manchmal, und die öffentliche Diskussion hakt dann verlässlich genau dort ein. So wie sie beim fantastischen Friedensprojekt Europäische Union bei der Krümmung von Salatgurken einhakt. Aber wer schon einmal bei einer Pride Parade mitgegangen ist, sei es als Zaungast, konnte es schon immer spüren: Da sind die Vibes von etwas Großem. Die der Möglichkeit, dazuzugehören zu dieser bunten und unendlich vielfältigen Menschheit, egal, wie anders sich jemand fühlt und aus welchen Gründen auch immer. Wir alle acht Milliarden Menschen sind eins und gehören zusammen, das ist die eigentliche queere Botschaft.
Eine Gesellschaft, die ihre Kraft aus Vielfalt und Toleranz bezieht, in deren Spiegel werden Diktatoren und ihre Entourage zu dem, was sie sind: zu Popanzen, die bedauernswert in einer gestrigen Welt vegetieren, weil sie ohne diese eine große Sache auskommen müssen: ohne die große Gemeinschaft. Ohne diese Vision, die uns bei unserer Geburt mitgegeben zu sein scheint und von der immer ein bisschen bleibt, egal, wie sehr uns die Sachzwänge des Lebens ernüchtern. Die Vision von einer globalen Gesellschaft, in der alle Menschen in Frieden lebend ihren wesentlichen Zielen nachgehen: der Erhaltung der Welt, die ihnen geliehen ist, und ihrer eigenen inneren Entwicklung zu etwas Größerem.
Wo sind die Persönlichkeiten, die dieser Vision eine politische Form geben? Sie fehlen noch, aber sie werden kommen und ihnen werden mehr Menschen folgen als den gerade so modernen Autokraten. Denn diese Ziele liegen tiefer in jedem Menschen als vordergründige Emotionen wie Wut, Missgunst und Ausgrenzung. Wenn wir aber jetzt die queere Bewegung aufgeben, diese Bewegung, die sich im Grunde für uns alle engagiert, dann lassen wir diese Emotionen und jene, die sie zum eigenen Vorteil schüren, einen Sieg erringen.
Niemand muss für die queeren Werte kämpfen, um sie durchzusetzen. Es reicht, sie beharrlich zu leben. Dann entsteht von selbst eine Welt, in der Diktatoren und Autokraten sich als das entpuppen, was sie sind: als seelenlose Großmäuler, die zurückfallen müssen auf das, was sie einmal veranlasst hat, sich aufzublasen. Die aber dann, in ihrer neuen Mickrigkeit, als Anfänger ebenfalls Teil der großen Gemeinschaft sein dürfen.
Verfasse auch du einen Beitrag auf campus a.