
Wer über große Entdeckungsfahrten spricht, nennt meist zuerst Christoph Kolumbus. Seine Reise von Europa nach Amerika gilt als Wendepunkt der Weltgeschichte Und als Beginn der Neuzeit. Kaum bekannt ist eine viel frühere, mindestens ebenso beeindruckende Expedition: Bereits rund tausend Jahre vor Kolumbus überquerten Seefahrer aus dem heutigen Indonesien das offene Meer und legten dabei mehr als 7.000 Kilometer zurück, bis nach Madagaskar. Auf der viertgrößten Insel der Welt hinterließen sie nicht nur Spuren, sondern prägten Sprache, Kultur und Alltag bis heute.
Die Entdecker Madagaskars gehörten zum Volk der Austronesier, einer Seefahrerkultur mit außergewöhnlichem Navigationswissen. Ausgehend von Taiwan breiteten sich die Austronesier über Jahrhunderte hinweg in alle Himmelsrichtungen aus. Im Osten erreichten sie Hawaii, im Westen schließlich Madagaskar. Ihre maritime Expansion umfasste eine Strecke von mehr als 17.000 Kilometern, was weiter entfernt ist als die Luftlinie zwischen Wien und Sydney.
Die Entdeckungen der Austronesier erstreckten sich über mehrere Perioden. Schließlich erreichten sie Madagaskar ungefähr im Jahr 500 (Foto: Benton et al. 2012)
Um eine Strecke von mehreren tausend Kilometern über den offenen Ozean zu bewältigen, griffen die Austronesier auf ein vergessenes Navigationswissen zurück, das kaum noch jemand kennt: „Die Farbe des Wassers, die Farbe von Schaumkronen, die Temperatur des Wassers, der Geschmack des Wassers, die Lage der Sterne“, diese und rund hundert weitere Methoden setzten sie gezielt zur Orientierung ein, erklärt Hermann Mückler, Ethnologe und Historiker an der Universität Wien. Mit diesem fein abgestimmten System überquerten sie den Indischen Ozean und erreichten Madagaskar, ganz ohne moderne Hilfsmittel wie Kompass oder Sextant. Viele Wissenschafter vermuten, dass die Austronesier dank ihrer Kenntnisse sogar nach Südostasien zurücksegeln konnten.
Die Austronesier bauten Boote, die aus heutiger Sicht klein und fragil wirken. Trotzdem verliehen ihnen beidseitige Holzausleger ausreichend Stabilität für Reisen über weite Teile des Planeten. Sogar im Hightech-Sport nützen Segler bis heute ihr Wissen. „Wenn wir uns heute die Volvo Ocean Race oder die großen Regatten anschauen, dann haben die sich für den Bau ihrer Hochleistungsboote immer wieder Dinge abgeschaut,“ meint Mückler. Auch wenn die Austronesier ihre Boote meisterhaft bauten, verloren viele auf der Überfahrt ihr Leben: „Die Geschichte spricht wie immer nicht von denen, die umgekommen sind, sondern von denen, die es geschafft haben.“ Vor allem bei den frühen Seereisen fanden unzählige Menschen den Tod auf See. „Von zehn losgefahrenen Schiffen kamen ungefähr ein bis zwei an,“ ergänzt er. Aber warum setzen sich die Segler auf ein Boot und überquerten den halben Ozean, wenn so viele Leute dabei starben?
In einigen Regionen stieg die Bevölkerung so stark, dass die vorhandenen Ressourcen nicht mehr ausreichten. Viele Menschen fanden keine ausreichende Nahrung und entschieden sich deshalb, ihre Heimat zu verlassen. Neugier und Forschungsdrang spielten ebenfalls eine Rolle bei der Entscheidung, sich auf weite Seereisen zu begeben. Welches Motiv am Ende den Ausschlag gab, lässt sich bis heute nicht eindeutig klären.
Nach heutigem Forschungsstand gehörten die Austronesier zu den ersten Menschen, die Madagaskar besiedelten. Im Laufe der Jahrhunderte gingen sie enge Beziehungen mit ostafrikanischen Bantu-Völkern ein, wodurch sie eine einzigartige kulturelle und genetische Verbindung zwischen Asien und Afrika schufen. Später nahmen französische Kolonialherren gezielt Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung der Insel. Es entstand eine vielfältige Mischung aus asiatischen, afrikanischen und europäischen Einflüssen.
Dennoch sind die Die Spuren der frühen Seefahrer bis heute sichtbar. Besonders die Landessprache Malagasy weist auffallende Ähnlichkeiten zu südostasiatischen Sprachen wie Indonesisch oder Malayisch auf.
Die Namensähnlichkeit zu Österreich entsteht durch einen Zufall. Der Begriff „austronesisch“ stammt nicht von Austria oder Österreich ab. Dennoch gibt es eine Verbindung: Der österreichische Ethnologe Pater Wilhelm Schmidt prägte 1906 den Begriff „austronesisch“. Er leitete ihn von den griechisch-lateinischen Wörtern für „südliche Inseln“ ab: auster (Süden) und nēsos (Insel).
Wie lassen sich ihre Entdeckungsreisen mit jenen der großen europäischen Seefahrer vergleichen? Sind die Leistungen der Austronesier womöglich höher einzuschätzen als jene von Kolumbus, Cook und anderen? Die Austronesier sind aus anderen Gründen in See gestochen als Kolumbus und Cook. Während europäische Expeditionen meist von Menschen ausgingen, die nach Reichtum, Macht und später auch nach wissenschaftlicher Erkenntnis strebten, verfolgten die Austronesier ganz andere Ziele. Das schmälert die Errungenschaften der Austronesier jedoch nicht: „Ihre Leistungen, egal ob jetzt nach Osten Richtung Ozeanien hinein oder nach Südwesten Richtung Madagaskar, waren außerordentlich. Vor allem wenn man auch die Kleinheit und Fragilität der Boote betrachtet,“ erklärt Mückler.
Die Geschichte dieses außergewöhnlichen Seefahrervolks ist in Österreich nahezu unbekannt. Schulbücher erzählen ausführlich von europäischen Entdeckern wie Kolumbus, oder Cook, doch die beeindruckenden Leistungen der Austronesier bleiben unerwähnt. Ihre Entdeckungsreisen über den Indischen Ozean verdienen es jedoch, ebenso erinnert zu werden wie jene, die später das europäische Weltbild prägten.
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