
Die Tür eines großen Büros in der Wiener Innenstadt schließt sich. Langsam dreht Wolfgang Mayr (Name geändert) den Schlüssel herum. Er erinnert sich zu gut an diesen Raum. Einst erfüllt durch Telefonklingeln, laute Diskussionen und seine eigene unverwechselbare Stimme. Jetzt ist alles ruhig. Der frühere Abteilungsleiter, gefürchtet und bewundert zugleich, ist offiziell in Pension. Seine Mitarbeiter hatten ihn mit einer kleinen Feier verabschiedet, doch der Applaus war kürzer ausgefallen, als er erwartet hatte. Während er die Stille einatmet, fragt er sich: Wo würde er jetzt noch diese Energie spüren, diesen unvergleichlichen Rausch, der ihn sein ganzes Berufsleben begleitet hat?
Sabine Victoria Schneider ist seit einigen Jahren in einer privaten psychologischen Praxis in Salzburg tätig. Im Gespräch mit campus a erklärt sie, welche Auswirkungen Narzissten im Ruhestand für ihre Familien haben, welche Krankheiten daraus hervorgehen können und warum es den klassischen Narzissten in ein paar Jahren nicht mehr geben wird. Außerdem nennt die Psychologin Tipps, wie sich Narzissten speziell auf ihren Ruhestand vorbereiten können.
campus a: Warum ist der Übergang in den Ruhestand für Narzissten besonders herausfordernd?
Schneider: Für einen Narzissten ist Selbstdarstellung so wichtig wie die Luft zum Atmen.Sie lieben das Gefühl, bewundert und gebraucht zu werden. Außerdem halten sie sich für unersetzlich. Im Berufsleben bekommen sie diese Bestätigung täglich. Wenn sie in Pension gehen, fehlt diese Bühne plötzlich.
Ich vergleiche das gern mit einer Blume, die immer Wasser und Licht bekam und blühte und nun plötzlich zum Selbstversorger wird. Diese Umstellung ist enorm schwierig.
campus a: Wie äußert sich die Suche nach einer neuen Bühne im familiären Alltag?
Schneider: Narzissten versuchen, ihre frühere Bedeutung durch Aufgaben im privaten Bereich zu kompensieren. Sie übernehmen dann etwa Haushaltsaufgaben oder mischen sich stark in die Belange der Familie ein, immer mit dem Gefühl, alles besser zu können als andere. Diese ständige Kontrolle kann für Partner und Kinder sehr belastend sein.
campus a: Welche konkreten Auswirkungen hat das auf die Familien der Betroffenen?
Schneider: Für die Ehepartner ist der Kontrollzwang oft am stärksten spürbar. Viele Narzissten bringen sich penetrant in die Erziehung der Kinder ein oder kontrollieren alltägliche Abläufe. Dazu kommt, dass viele Narzissten während ihrer Karriere in der Beziehung mit dem Partner kaum präsent waren, emotional wie physisch. Die plötzliche Daueranwesenheit in der Pension kann das Familienleben enorm belasten und ist nicht selten ein Auslöser für Trennungen oder Scheidungen.
campus a: Gibt es gesundheitliche Folgen für Narzissten im Ruhestand?
Schneider: Ja, das ist keine Seltenheit. Manche Narzissten erleben einen sogenannten Pensionsschock. Sie fühlen sich plötzlich wertlos, nicht mehr gebraucht. Das kann psychisch und körperlich krank machen. Insbesondere Narzissten ohne soziale Kontakte außerhalb der Arbeit, sind krankheitsanfälliger. Viele entwickeln eine übersteigerte Selbstwahrnehmung in Bezug auf körperliche Symptome, ein Verhalten, das wir als Hypochondrie oder Doktor-Hopping kennen.
campus a: Woran liegt dieses Verhalten?
Schneider: Narzissten sind häufig Privatpatienten. Ein Wahlarzt nimmt sich Zeit, das kommt ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit entgegen. Sie beginnen, sich über ihre Beschwerden zu definieren, weil sie dadurch wieder im Mittelpunkt stehen. Das kompensiert zumindest vorübergehend das fehlende Publikum aus dem Berufsleben.
campus a: Sie sagen, der klassische Narzisst werde bald aussterben. Wie meinen Sie das?
Schneider: Der klassische Narzisst, häufig männlich, karrieregetrieben und leistungsfixiert, ist vor allem unter den Babyboomern verbreitet. Diese Generation wurde leistungsorientiert erzogen und Liebe war immer mit Leistung verbunden. Heute verändern sich Erziehungsstile und Rollenbilder. Macht und Statussymbole verlieren an Bedeutung, besonders in modernen Arbeitsumgebungen wie Großraumbüros. Der Narzissmus verschwindet nicht, aber er verändert sich. Die Form, wie er gelebt wird, wird subtiler, da Menschen aus ihrem eigenen Ich heraus leistungsorientierter sind und die Selbstdarstellung brauchen.
Narzissmus per se wird also immer existieren.
campus a: Wie können sich Betroffene besser auf den Ruhestand vorbereiten?
Schneider: Der wichtigste Schritt ist, rechtzeitig ein neues soziales Umfeld aufzubauen, etwa durch Vereine oder Freundeskreise. Außerdem hilft ein strukturierter Tagesablauf. Narzissten brauchen klare Abläufe, sonst verlieren sie schnell das Gefühl von Kontrolle.
campus a: Gibt es Aktivitäten, die Narzissten im Ruhestand helfen können?
Schneider: Ja, sie sollten Dinge finden, die ihnen Freude und Spaß bereiten. Das kann Lesen, Sport oder Reisen sein. Wichtig ist, dass sie sich selbst wieder als handlungsfähig erleben. Verantwortung zu übernehmen, etwa als Mentor, kann sehr hilfreich sein. Dadurch fühlen sie sich weiterhin gebraucht.
campus a: Was empfehlen Sie Narzissten als langfristige Strategie für ein erfülltes Leben nach dem Beruf?
Schneider: Sie sollten neue Ziele definieren. Ohne diese Orientierung verlieren sich viele in ihrer Leere. Ziele geben Struktur und Sinn. Mit der richtigen Vorbereitung und einer neuen Bühne kann auch ein Narzisst im Ruhestand ein stabiles, erfülltes Leben führen.
Wolfgang Mayr steht immer noch vor der verschlossenen Bürotür. Die Leere, die ihn umgibt, ist neu und beängstigen. Doch in dieser Leere gibt es eine neue Chance für ihn. Er hat die Möglichkeit eine neue Bühne zu schaffen. Wie die Psychologin Dr. Schneider betont, können Narzissten mit der richtigen Vorbereitung und neuen Zielen lernen, diesen Übergang zu meistern. Vielleicht wird Wolfgang Mayr seine Energie bald in einem Verein oder als Mentor weitergeben. Eines ist jedoch klar: Das Bedürfnis gebraucht zu werden bleibt, nur die Bühne verändert sich.
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