
Als Kaja Kallas am 1. Dezember 2024 das Amt der EU-Außenbeauftragten übernahm, war schnell klar, dass sich etwas ändern würde. An der Spitze der europäischen Diplomatie stand mit einem Mal eine Frau, die das System einer konsensorientierten Union herausfordern will. In Brüssel fällt ihr direkte, oft schneidende Rhetorik auf und ihr Stil unterscheidet sich deutlich von dem ihrer Vorgänger. Kein diplomatisches Abtasten, sondern klare Kante. Kaum jemand hat Europas außenpolitisches Profil in so kurzer Zeit so deutlich geschärft wie sie.
Währenddessen steht die Europäische Union außen- wie innenpolitisch unter Druck. Der anhaltende Krieg in der Ukraine, die Spannungen im Nahen Osten, Chinas geopolitische Ambitionen und zugleich eine EU, die sich intern immer wieder über Kurs und Kompetenzen streitet. Kallas positioniert sich klar. Europa braucht Haltung, und die zeigt sie. Als ehemalige erste weibliche Premierministerin Estlands führt die 47-Jährige eine neue politische Generation von Frauen an, die auf europäischer und globaler Ebene den Ton angeben. Wer ist diese Frau, auf der nun viele Zukunftshoffnungen ruhen?
Kaja Kallas kam am 18. Juni 1977 in Tallinn, Estland zur Welt, in einem Land, das damals noch fest im Griff der Sowjetunion war. Ihre Kindheit war geprägt von den Nachwirkungen eines totalitären Regimes, das tiefe Spuren in ihrer Familie hinterlassen hat. Stalinistische Behörden deportierten ihre Mutter Kristi als sechs Monate altes Baby im Jahr 1949 zusammen mit ihrer Familie in einem Viehwaggon gepfercht nach Sibirien. Ein Schicksal, das viele Esten, Letten und Litauer während der sowjetischen Besatzungszeit teilen mussten. Erst nach zehn Jahren der Verbannung durfte die Familie in die damalige Estnische Sowjetrepublik zurückkehren. Dieses Trauma prägt das kollektive Gedächtnis Estlands und die DNA der Familie Kallas.
Ein besonders eindrücklicher Moment in Kaja Kallas’ Kindheit ereignete sich 1988. Mit elf Jahren reiste sie mit ihrer Familie nach Ostberlin, was ein Privileg für Bürger der Sowjetunion war. Am Brandenburger Tor forderte ihr Vater sie auf, „die Luft der Freiheit“ einzuatmen. Damals verstand sie die Tragweite dieser Worte noch nicht, denn Freiheit war für sie ein abstrakter Begriff. Erst später wurde ihr bewusst, wie außergewöhnlich dieser Moment war.
Das politische Engagement scheint Kaja Kallas in die Wiege gelegt. Ihr Urgroßvater Eduard Alver war einer der Gründerväter des ersten unabhängigen estnischen Staates nach dem Zerfall des Zarenreichs. Ihr Vater, Siim Kallas zählt zu den zentralen Architekten des modernen Estlands. Als Chef der Zentralbank, später als Außenminister, Ministerpräsident und EU-Kommissar prägte er das junge Land entscheidend mit. Kaja Kallas war als Teenager unmittelbar Zeugin des Werdegangs ihres Vaters. Auch wenn ihr politisches Erbe sie geformt zu haben scheint, musste sie sich ihren Platz auf der internationalen Bühne trotz allem selbst erarbeiten.
1995 absolvierte sie ihr Abitur und entschied sich daraufhin für ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Tartu. Sie spezialisierte sich auf europäisches und estnisches Wettbewerbsrecht und studierte parallel an der Estonian Business School. Mit gerade einmal 22 Jahren stieg sie 1999 in die estnische Anwaltskammer ein, ein früher Karrierehöhepunkt. Bald darauf stieg sie als Partnerin in zwei renommierte Kanzleien ein. Auch ihr Privatleben verlief früh in geregelten Bahnen. Mit 24 heiratete sie Roomet Leiger, die Ehe hielt vier Jahre. Später lebte sie mit dem früheren Finanzminister Taavi Veskimägi zusammen, mit dem sie einen Sohn hat. Die Beziehung endete 2014.
Im Jahr 2010 vollzog Kaja Kallas den entscheidenden Schritt in die Politik. Sie trat der liberalen Estnischen Reformpartei bei, die ihr Vater Siim Kallas einst mitbegründet hatte und bis heute für eine proeuropäische und NATO-orientierte Politik steht. Nur ein Jahr später zog sie bei den Parlamentswahlen auf Anhieb ins estnische Parlament ein. 2014 folgte der Sprung auf die europäische Bühne. Dort war sie bis 2018 Mitglied der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). Ihr Fokus lag auf Schlüsselthemen der europäischen Agenda. Dem digitalen Binnenmarkt, der Energiepolitik, dem Verbraucherschutz und den Rechten kleiner und mittlerer Unternehmen. Mit diesen Themen erarbeitete sie sich ein klares Profil nicht nur in Estland, sondern europaweit.
Nach vier Jahren in Brüssel kehrte Kallas 2018 mit einem historischen Schritt in die estnische Politik zurück. Als erste Frau übernahm sie den Vorsitz der Reformpartei. Nur drei Jahre später, im Januar 2021, wurde sie mit nur 43 Jahren zur ersten weiblichen Premierministerin in der Geschichte Estlands gewählt. Damit war sie erneut Pionierin in einem von Männern dominierten Amt. Ihre Amtszeit begann unter schwierigen Vorzeichen. Die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie, explodierende Energiepreise und schließlich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellten ihre Regierung vor gewaltige Herausforderungen. Doch Kallas führte mehrere Koalitionsregierungen erfolgreich durch die multiplen Krisen und wurde nach einer Neuwahl 2023 erneut mit der Regierungsbildung beauftragt.
Am 1. Dezember 2024 folgte der nächste große Schritt in ihrer Laufbahn. Der Europäische Rat ernannte Kallas zur hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, ein Ressort, für das sie auch als Vizepräsidentin der Kommission verantwortlich ist. Sie arbeitet unter anderem daran, eine europäische Verteidigungsunion aufzubauen und die EU widerstandsfähiger gegenüber neuen Gefahren wie Cyber- und hybriden Angriffen zu machen. Außerdem entwickelt sie strategische Beziehungen zu Nachbarländern der EU, zu Beitrittskandidaten und globalen Regionen wie Afrika, Indo-Pazifik, der Sahelzone, Lateinamerika und Zentralasien. Zusätzlich leitet sie die EU-Diplomatie, ist für die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates zuständig und steht an der Spitze der EU-Missionen und -Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).
Der langjährige ÖVP-Europaabgeordnete und ehemaliger erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments Othmar Karas glaubt an sie: „Ich halte Frau Kallas für eine richtige Entscheidung in dieser Zeit, sie ist liberal, eine ehemalige Ministerpräsidentin und profiliert sich außenpolitisch stark. Jetzt geht es darum, dass sie ihre Funktion in dieser Komplexität optimal nützt und zwar für eine gemeinsame EU- Außen-, Sicherheits-, und Verteidigungspolitik.“
Kaum ein Schatten liegt über ihrer Karriere, da findet sich lediglich eine Affäre rund um den Ukraine-Krieg: 2018 heiratete Kallas den Investmentbanker Arvo Hallik, der zwei Kinder aus einer früheren Beziehung in die Ehe mitbrachte. Ende 2023 deckten Medienberichte auf, dass Arvo Halliks Unternehmen Anteile an einer Logistikfirma hielt, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs weiterhin Waren im Gesamtwert von rund 17 Millionen Euro nach Russland geliefert haben soll. Brisant wurde der Fall durch ein Darlehen in Höhe von 350.000 Euro, das Kallas ihrem Mann gewährt haben soll. Zwar betonte sie, das Geld sei nicht in diese Russlandgeschäfte geflossen, dennoch geriet sie politisch unter Druck. Kallas erklärte später, sie habe keine Kenntnis von den geschäftlichen Aktivitäten ihres Mannes gehabt und betonte, dass die Logistikfirma ihre Russlandtransporte einen Monat nach Kriegsbeginn eingestellt habe.
Der Fall sorgte für Empörung, da sie gleichzeitig estnische Unternehmen dazu aufforderte, ihre Geschäftsbeziehungen mit Russland abzubrechen. Gleichzeitig nagten hohe Inflationsraten und massiv gestiegene Verteidigungsausgaben an ihrer Popularität als Premierministerin. In gewisser Weise war Kallas’ Wechsel 2024 nach Brüssel daher auch eine Flucht aus Tallinn.
Kallas ist eine überzeugte Vertreterin des wirtschaftlichen Liberalismus. Als langjährige Vorsitzende der estnischen Reformpartei, die der liberalen Renew-Europe-Fraktion im EU-Parlament angehört, steht sie für marktwirtschaftliche Reformen, Innovation und Digitalisierung. Zugleich ist sie eine der profiliertesten pro-europäischen Stimmen im Baltikum. Sie steht für eine enge Anbindung Estlands an die Europäische Union und die NATO und hat sich stets für eine starke europäische Integration ausgesprochen. Innenpolitisch vertritt Kaja Kallas klare liberale Werte. Unter ihrer Führung führte Estland als erstes postsowjetisches Land die Ehe für alle ein und ihre Reformpartei kämpft konsequent für Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.
Für ihr anhaltendes Engagement erhielt sie mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Ewald-von-Kleist-Preis (2025) der Münchner Sicherheitskonferenz, dem Henry A. Kissinger Award (2025) der American Academy in Berlin sowie 2023 dem Orden des Fürsten Jaroslaw des Weisen (II. Klasse), einer hohen ukrainischen Ehrung von Wolodymyr Selenskyj höchstpersönlich überreicht. Zudem ernannte sie die Vertretung der Europäischen Kommission in Estland zur „European of the Year 2023“. Laut Othmar Karas unterscheidet sich Kallas von ihren Vorgängern in diesem Amt durch ihre Erfahrung, ihre frühere Rolle als Ministerpräsidentin, ihre Zugehörigkeit zu einem liberalen Flügel sowie ihre Herkunft.
Der 24. Februar 2022 markierte einen Wendepunkt für Europa und insbesondere für Kaja Kallas. Während einige im Westen zögerten, fand Kallas sofort unmissverständliche Worte. Gestützt auf die historischen Erfahrungen ihres Landes und die ihrer Familie warnte sie seit langem vor der russischen Gefahr und der Naivität im Umgang mit dem Kreml. Kallas warnte bereits vor Moskaus expansionistischen Ambitionen, als viele andere Spitzenpolitiker noch versuchten, sich mit Putin gutzustellen. Laut Politico war es Kallas, die die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel davon abbrachte, Putin 2021 zu einem Gipfeltreffen einzuladen.
Kallas zählt zu den entschiedensten Kritikerinnen von Wladimir Putin in Europa und trägt deswegen auch den Spitznamen „russischer Falke“, der ihr selbst allerdings nicht gefällt, wie sie in einem Interview mit Ad-hoc-news im April 2025 preisgibt. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordert sie unermüdlich eine harte Linie gegenüber Moskau und warnt vor jeglichen direkten Verhandlungen mit Putin. Für Kallas ist Putin ein Taktiker, der Gespräche lediglich als Mittel zum Zweck nutzt, ohne sich an Vereinbarungen zu halten. Sie sieht in Russland und Putin eine ernsthafte Bedrohung für die regelbasierte internationale Ordnung und warnt vor einer Rückkehr zum „Recht des Stärkeren“, sollte Russland für seine Aggression ungestraft bleiben.
Kallas fordert vehement höhere Verteidigungsausgaben der NATO-Mitglieder und hebt besonders die baltischen Staaten hervor, die bei einem möglichen Erfolg Putins in der Ukraine in Gefahr geraten könnten. “Kallas ist als ehemalige estnische Premierministerin stark vernetzt mit den baltischen Staaten und anderen Ländern, die direkt an Russland grenzen. Dort schätzt man ihre klare Haltung gegenüber Moskau und ihre konsequente Unterstützung der Ukraine“, bestätigt Hannah Neumann, Mitglied des Europäischen Parlaments (Fraktion „Die Grünen/EFA“).
Kallas plädiert für eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA, um die Ukraine zu unterstützen und Russland politisch sowie wirtschaftlich zu isolieren. Ihre Haltung gegenüber den Sanktionen ist eindeutig, Kallas spricht sich gegen jede Lockerung aus und fordert eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Drucks auf Russland, um Putin zur Verhandlung zu zwingen. Der Westen dürfe auf keine russischen Ultimaten eingehen und dürfe weder Gebietsverluste noch eine Neutralität der Ukraine akzeptieren.
Kallas bisherigen Erfolg beschreibt Othmar Karas wie folgt: „Ich sehe Europa zwar nicht gespalten, aber wir sind herausgefordert. Wir wollen derzeit eine europäische Verteidigungsunion und Rüstungsindustrie aufbauen, und Europa kann diese Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen. Der Außenpolitik kommt dabei eine besondere Rolle zu, die aktuell erfolgreich gelebt wird.“
Estland gehört zu den Ländern mit den höchsten Verteidigungsausgaben im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Europa. Für 2025 plant Estland, seine Verteidigungsausgaben auf rund 5,4 % des BIP zu erhöhen, was im internationalen Vergleich ein Spitzenwert ist. Pro Kopf gerechnet hat Estland der Ukraine mehr Militärhilfe zukommen lassen als jedes andere Land. Dieser Spitzenwert bezieht sich sowohl auf den Anteil am BIP als auch auf die Bevölkerungszahl. Kaja Kallas harte Linie gegen Putin macht sie zur ersten westlichen Politikerin, gegen die ein internationaler Haftbefehl aus Moskau vorliegt. Konkret wirft Russland ihr vor, sowjetische Kriegsdenkmäler in Estland abgerissen zu haben.
Auf der russischen Fahndungsliste stehend, betrachtet sie dies als „Badge of Honor“ und lässt sich nicht von ihrer Haltung abbringen. Sie bleibt überzeugt, dass Russland keinen echten Willen zum Frieden hat und man Putin nicht trauen dürfte. Auf X bekräftigt sie ihre Haltung regelmäßig mit Worten wie: „While claiming to seek peace, Russia launched a deadly airstrike on Kyiv. This isn’t a pursuit of peace, it’s a mockery of it.”
Als EU-Außenbeauftragte brachte Kallas umfassende Vorschläge für Militärhilfen an die Ukraine vor, darunter ein Militärhilfepaket im Wert von 20 bis 40 Milliarden Euro, das die EU-Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Wirtschaftskraft finanzieren sollten. Ein zentraler Bestandteil dieses Plans war die Bereitstellung von zwei Millionen Schuss großkalibriger Artilleriemunition im Wert von fünf Milliarden Euro für die Ukraine, ergänzt durch Luftabwehrsysteme, Raketen, Drohnen und Kampfjets. Kallas schlug vor, die Beiträge nach dem Bruttonationaleinkommen zu verteilen, um eine gerechte Lastenteilung zu sichern. Ihre Initiative zur Unterstützung der Ukraine stieß jedoch auf Widerstand, insbesondere von süd- und westeuropäischen Staaten wie Italien, Spanien und Frankreich, die sich gegen hohe neue Hilfszusagen stellten. Auch Ungarn blockiert regelmäßig EU-Beschlüsse zur Ukraine-Hilfe. Jedoch lehnte der EU-Gipfel im März 2025 Kallas Initiative ab.
Übrig blieb lediglich der Vorschlag von zwei Millionen Artilleriegeschosse im Wert von fünf Milliarden Euro bereitzustellen, aber auch diesen hat die EU noch nicht konkret umgesetzt. Trotz dieser Widerstände betonte Kallas wiederholt, dass die EU die Ukraine „so lange wie nötig“ militärisch, finanziell und politisch unterstützen müsse. Sie setzt sich außerdem für eine dauerhafte Integration der Ukraine in die EU und für Friedensgarantien nach dem Krieg ein. Von Beginn an sprach sie sich dafür aus, eingefrorene russische Vermögenswerte zur Unterstützung der Ukraine sowohl im Wiederaufbau als auch in der Verteidigung zu nutzen. Inzwischen sind bereits 1,5 Milliarden Euro aus blockierten russischen Geldern für diesen Zweck mobilisiert worden. „Doch ihre Fokussierung auf Russland hat auch Grenzen: In Spanien und anderen Ländern Südeuropas ist ihre Position zu Israel und Gaza mindestens genauso entscheidend“, sagt Hannah Neumann.
Mit ihren klaren Aussagen und ihrer entschlossenen Haltung gegenüber Putin hat sich Kallas definitiv den Respekt der Diplomaten und Bürokraten in Brüssel erarbeitet. Sie spricht aus, was viele denken, aber niemals zu sagen wagen. Als Neuling im Amt und vielleicht sogar als Frau erfordert dies besonderen Mut. Denn ihr Posten mag vielleicht sogar der Undankbarste der ganzen EU sein. Kallas muss ständig als Brückenbauerin zwischen allen Parteien fungieren und europäische Einstimmigkeit ist bekannterweise eine Angelegenheit, die außerordentliche diplomatische Koordination verlangt. Die mangelnde Geschlossenheit der EU in außenpolitischen Fragen veranlasst Kallas zwischen den oft divergierenden Interessen der 27 Mitgliedstaaten vermitteln, Blockaden (etwa durch Ungarn) überwinden und institutionelle Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kommission, Rat und dem Amt der Außenbeauftragten managen.
Die Erwartungen sind enorm, die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten für Kallas relativ klein, während die EU in einer Permakrise steckt, in der sich Konflikte, Kriege, Wirtschafts- und Energiekrisen überlappen. Die EU-Außenbeauftragte soll Europas Interessen weltweit vertreten, kann aber weder eigenständig militärisch handeln noch verbindliche außenpolitische Entscheidungen treffen. Othmar Karas meint: „Sie kann eine Integrationsfigur sein, aber ohne den politischen Willen der Mitgliedsstaaten ist sie machtlos.“ Sie kann oft nur moderieren und koordinieren, nicht aber durchregieren. Als Leiterin des Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), der unter chronischer Unterfinanzierung leidet, muss sie den diplomatischen Einfluss der EU weiterhin garantieren. Von Kallas wird erwartet „mehr mit weniger“ zu erreichen. Also kein leichter Job.
Obwohl ihre kompromisslose Haltung gegenüber Russland in Brüssel Respekt genießt, werden ihre Äußerungen des Öfteren als undiplomatisch wahrgenommen. In Brüssel hat sich bereits der Begriff „Kallas-Moment“ etabliert, um jene Augenblicke zu beschreiben, in denen Kallas ohne die übliche diplomatische Zurückhaltung spricht und damit ihre Kollegen gewissermaßen vor den Kopf stößt.
Ein erstes Beispiel für ihren konfrontativen Kurs zeigte sich keine zehn Stunden nach ihrem Amtsantritt am 1. Dezember 2024. Während eines Besuchs in Kiew schrieb sie auf der Plattform X, die EU wolle, „dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“. Eine so deutliche Positionierung hatte bis dahin kein führender EU-Vertreter gewagt. Zuvor galt als diplomatischer Konsens die Formel, Russland dürfe „nicht siegen“. In der internationalen Diplomatie, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird, war das ein bemerkenswerter Bruch mit der bisherigen Rhetorik.
Ebenso unbeirrt äußerte sie sich kurz nach dem ersten Telefonat zwischen Donald Trump und Wladimir Putin. Die Idee, Russland Zugeständnisse zu machen, bevor überhaupt Waffenstillstandsverhandlungen begonnen hätten, nannte sie „Beschwichtigung“. Ob sie dabei die sensiblen transatlantischen Töne berücksichtigte, blieb offen. Und als es nach einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus zu Spannungen kam, legte sie auf X nach „Die freie Welt braucht einen neuen Führer“, was als direkte Kritik an der US-Regierung galt. Zu Kallas‘ Linie sagt Othmar Karas: „Nach außen muss sie klar und deutlich sein, nach innen einen gemeinsamen Standpunkt erarbeiten. Ihr Außenauftritt zeigt aber, dass sie auch nach innen ihre Aufgabe erfüllt.“
Doch wie hält es Kallas, die den Titel „Europas Eiserne Lady“ trägt, mit dem amerikanischen Präsidenten? Sie widersprach öffentlich Trumps Vorwürfen, die Ukraine sei das Hindernis für Friedensverhandlungen und machte klar, dass das wahre Problem Russlands anhaltende Aggression seien. Gleichzeitig erkennt sie an, dass Trump mit seiner Forderung nach höheren Verteidigungsausgaben in Europa recht hat, und ruft die EU-Staaten dazu auf, mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen. Sie betont aber auch, dass die USA trotz Differenzen der wichtigste Verbündete Europas bleiben müssen. Im Umgang mit Trumps Regierung setzt Kallas auf enge Zusammenarbeit und betont die Notwendigkeit, die transatlantische Einheit zu bewahren, um Russland keine Chance zur Spaltung des Westens zu geben. Erst kürzlich blockierte sie jedoch Trumps Krim-Deal, der eine Annexion der Krim de facto gebilligt hätte. Das unterstreicht ihre grundsätzliche Ablehnung jeglicher Kompromisse, die nicht die vollständige Rückgabe aller besetzten Gebiete einschließlich der Krim an die Ukraine garantieren. Selbst wenn das bedeutet, dass der Krieg andauert.
Als Grund nannte sie, dass ein solcher Deal Aggressionen belohnen würde und statt sich Frieden zu erkaufen, mehr Druck auf Moskau auszuüben sinnvoller wäre. Vom Weißen Haus erwartet sie sich mehr Härte. Othmar Karas meint dazu: „Wenn sie keine Kompromisspolitikerin wäre, würde sie an Grenzen stoßen. Aber sie weiß ganz genau, was Europa jetzt braucht und welche Verantwortung sie mit diesem Amt hat.“
Kritiker bezeichnen Kallas als Idealistin, die sich geistig noch nicht ganz von ihrem früheren Amt als estnische Premierministerin gelöst hat, positive Stimmen beschreiben sie als Führungskraft mit Rückgrat und neue Hoffnung für Europa, doch welche Dynamiken herrschen unter ihren Arbeitskollegen in Brüssel? Kallas und Ursula von der Leyen befinden sich beide in hohen Führungspositionen in der EU, doch in ihrer Zusammenarbeit scheinen sich kürzlich Reibungen herauszukristallisieren. Mit Kallas ehrgeizigen Militärhilfepaketen für die Ukraine erhielt sie von Ursula von der Leyen nicht immer die erwartete Rückendeckung, insbesondere bei aufkommenden Widerstand aus Teilen der EU.
Dies führte zu einer gewissen Ernüchterung bei Kallas über die Unterstützung durch die Kommissionsspitze. „Gerade beim White Paper on the Future of European Defence zeigte sich das Machtgefälle: Kallas und Kubilius hatten das Papier vorbereitet, doch kurz vor der Veröffentlichung griff Ursula von der Leyen noch einmal ein. Ein deutliches Signal, wer die Richtung vorgibt.“, sagt Hannah Neumann.. Die bisherige Zusammenarbeit von Kallas und von der Leyen beschreibt Othmar Karas jedoch allgemein als „problemlos und erfolgreich“.
Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni reagierte mit offenem Unmut auf das Personalpaket rund um die zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen, die Ernennung António Costas zum Ratspräsidenten und die Nominierung Kaja Kallas’. Italiens Interessen seien übergangen worden, kritisierte sie scharf. Während sie gegen Costa und Kallas stimmte, verweigerte sie von der Leyen ihre Zustimmung durch Enthaltung. Meloni pocht darauf, dass Italien in Europa endlich das Gewicht erhält, das ihm zustehe, die Entscheidungen bezeichnete sie als „methodisch und inhaltlich falsch“. Die Differenzen zwischen Meloni und Kallas sieht Othmar Karas als logisch begründet: „Durch die Partei die Giorgia Meloni vertritt, ihren Aussagen im Wahlkampf und der Positionierung ihrer politischen Partei, nimmt Meloni als Parteichefin gerade bei der Außenpolitik eine vielfach diskutierte Haltung ein, als Ministerpräsidentin gibt sie aber keinen Anlass zu Kritik.“
Kaja Kallas hat sich in ihrer Amtszeit schnell als eine entschlossene und visionäre Politikerin profiliert. Ihre klare Haltung in Krisenzeiten, sei es in der Energiepolitik oder im Umgang mit Russland, macht sie zu einer wichtigen Stimme in der EU, die unmissverständlich Haltung zeigt. Am Ende des Tages ist Kaja Kallas jedoch vor allem eines. Der personifizierte Realitätscheck für ein Europa, das sich zu lange in Sicherheit gewogen hat. Othmar Karas sieht in ihr eine Integrationsfigur für ein herausgefordertes Europa und Kallas weiß, dass jetzt starke Führung gebraucht wird und nicht leise Vermittlung. Als potenzielle EU-Kommissionspräsidentin sieht Othmar Karas sie jedoch nicht: „Durch ihre jetzige Funktion und Tätigkeit ist sie voll ausgelastet und hat keinen Platz für weitere Karrierespekulationen.“
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