
„Die Jugend will nicht mehr arbeiten.“ Der Satz fällt häufig. Im Fernsehen. Am Stammtisch. Auf LinkedIn. Gemeint ist meist: Zu weich, zu bequem, zu wenig Biss. Dabei spricht hier oft eine Generation, die das eigene Burn-out glorifiziert hat und nun verwundert zusieht, wie andere diesen Irrweg nicht einfach mitlaufen. Arbeitsverhältnisse verändern sich. Prioritäten ebenso. Und das hat gute Gründe.
Der tägliche Ablauf gleicht einer Hetzjagd. Uni bis mittags, Teilzeitjob am Nachmittag. Kaum zu Hause, warten Abgaben, lernen für Prüfungen, To-do-Listen. Der Kopf bleibt im Dauerbetrieb. Die nächste Verpflichtung sitzt schon im Nacken. Trotzdem regnet es Urteile: „Kein Leistungswille mehr“, „Früher war das normal“. Doch früher bedeutete „harte Arbeit“ oft: Ein Gehalt reichte, um ein Haus zu bauen, Kinder zu ernähren und Urlaube zu machen. Heute reicht ein Vollzeitgehalt kaum mehr für eine Mietwohnung im Stadtzentrum. Eigentum? In und um Ballungszentren eine ferne Fiktion. Die Einkommen steigen zwar nominell, doch die Inflation frisst den Großteil des Zuwachses auf. Gleichzeitig klettern die Immobilienpreise deutlich stärker als die Gehälter. Wer sich doch ein Eigenheim erarbeitet, tut das mit jahrzehntelanger Kreditbelastung. Und wer selbst ein Unternehmen gründen möchte, konkurriert mit einem gesättigten Markt voller Start-ups, die Probleme lösen, die vorher gar nicht existierten.
Leistung bleibt wertvoll, keine Frage. Doch das kapitalistische System hat daraus einen Fetisch gemacht. Produktivität ersetzt Persönlichkeit. Lebenssinn wird messbar in Arbeitsstunden, Umsatz, Output. Dabei prägte diese Ideologie die Welt erst seit wenigen Jahrhunderten. Vorher arbeiteten Menschen auch, aber eben nicht, um zu „performen“, sondern um zu leben. Industrialisierung und Konsumwelle veränderten den Blick. Seitdem zählt nur, wer liefert. Und wer nicht funktioniert, fliegt raus oder brennt aus.
Die Forderung nach Work-Life-Balance stellt dieses Dogma in Frage. Sie signalisiert: Zeit besitzt Wert, unabhängig vom Geld. Freizeit, Familie, Muße, Engagement brauchen Raum. Dabei verzichtet die Generation Z (1997-2012) auch gerne auf mehr Gehalt. Über 60 Prozent jener sind laut Studien mit weniger zufrieden, wenn sie dafür eine bessere Work-Life-Balance erhalten. Wer Work-Life-Balance lebt, widersetzt sich der Idee, dass der Mensch nur eine Maschine im Mechanismus bleibt. Diese Haltung gleicht einem leisen, aber wirksamen Widerstand gegen ein System, das konstante Erschöpfung zum Normalzustand gemacht hat.
Doch dieser Widerstand stößt an Grenzen. Denn das kapitalistische System duldet Erholung nur als Regenerationsphase, zur späteren Leistungssteigerung. Wer nicht über genügend Einkommen oder Privilegien verfügt, kann sich Auszeiten oft nicht leisten. Die Work-Life-Balance bleibt für viele ein Traum. Erreichbar nur für jene, die ohnehin weniger kämpfen müssen. Das macht sie nicht falsch, sondern entlarvt das System.
Die Debatte stößt sich auch an einem anderen Punkt: Die Gegenentwürfe fehlen. Kritik am Kapitalismus genügt nicht. Donald Trump oder Elon Musk verkörpern dessen Extreme. Narzisstische Dauerperformer, entkoppelt von Alltag und Realität. Aber was steht dem gegenüber? Worin liegt die Vision einer Wirtschaft, die Leben nicht aussaugt, sondern ermöglicht? Antworten existieren, aber sie bleiben fragmentarisch. Slow Living. Gemeinwohlökonomie. Post-Work-Modelle. Alle zeigen Wege, aber kein Kompass weist klar Richtung Zukunft.
Dabei bieten neue Technologien Chancen. Künstliche Intelligenz erledigt bereits Aufgaben, die früher Menschen übernahmen. Diese Entlastung könnte Zeit schenken. Zeit für Bildung, Fürsorge, Kreativität. Doch ohne neuen Rahmen führt Automatisierung nicht zur Befreiung, sondern zur Abwertung menschlicher Arbeit. Maschinen sparen Kosten, aber für wen entsteht der Gewinn? Der Kapitalismus saugt Innovationen auf, solange sie Profit versprechen. Ohne ethische Richtlinien vergrößert Technik nur bestehende Ungleichheiten.
Die eigentliche Frage lautet daher: Was zählt als Erfolg? Eine 70-Stunden-Woche? Ein Lebenslauf ohne Lücken? Oder ein Alltag, der Platz für Stille lässt? Viele streben nach Erfüllung. Sie wollen gestalten, bauen, bewegen, sei es durch ein eigenes Unternehmen, ein sicheres Zuhause oder im „nine to five Job“. Der Wunsch nach Sinn bleibt stark. Aber das System erschwert Erfüllung, während es Leistung glorifiziert. Wer keine Pause kennt, schafft kein Fundament. Wer keine Balance findet, verliert den Überblick.
Hier zeigt sich eine Parallele zu einer bekannten Anekdote von Heinrich Böll. Ein Fischer liegt entspannt im Boot, während ein Tourist ihm vorschlägt, noch mehr zu fischen, für mehr Geld, ein größeres Boot, irgendwann eine Fabrik. Die Vision endet mit dem Satz: „Dann könnten Sie am Hafen sitzen, das Meer genießen, einfach leben.“ Der Fischer entgegnet nur: „Aber das mache ich doch schon.“ Die Geschichte klingt harmlos und trifft doch mitten ins Zentrum der Debatte. Wer ständig nach dem Nächsten jagt, bemerkt oft nicht, wenn das Wesentliche längst da ist. Wozu weiter hetzen, wenn der Moment bereits genügt?
Work-Life-Balance ist kein Endzustand. Auch kein Ersatz für ein neues Wirtschaftssystem. Aber sie bildet den Anfang. Ein Anfang, der spürbar macht, dass es auch anders geht. Nicht bequemer, aber bewusster. Nicht fauler, sondern freier. Dieser Wandel geschieht nicht auf einmal. Aber jede Entscheidung, Zeit dem Leben statt der Leistung zu geben, sät etwas Neues. Kein System bleibt ewig. Und kein Mensch funktioniert ohne Pause. Wer Balance fordert, zeigt nicht Schwäche, sondern Mut zur Menschlichkeit.
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