
Zehn Jahre in Folge thront Wien auf Platz eins: die lebenswerteste Stadt der Welt. Ein Titel, der weltweit Anerkennung findet und damit jedes Jahr rund 70.000 Menschen anzieht. Sie kommen aus nah und fern, mit Hoffnungen im Gepäck und dem Wunsch nach einem besseren Leben. Die Stadt lockt mit einem dichten Netz öffentlicher Verkehrsmittel, kostenlosen Bildungseinrichtungen, leistbaren Sozialwohnungen, gepflegten Parks, einem stabilen Gesundheitssystem und hoher öffentlicher Sicherheit. Und da ist natürlich noch dieses gewisse Wiener Flair. Zwischen Kaffeehauskultur, Donauinsel und Heurigenabend erzählen fünf junge Menschen, warum sie nach Wien gekommen sind.
Doch was erwartet jene, die bleiben? Erfüllt Wien die großen Versprechen, die man ihr zuschreibt, oder stoßen Zugezogene auf Enttäuschungen? Ähnlich wie beim „Paris-Syndrom“, bei dem Traum und Realität auseinanderdriften, kann auch die Stadt an der Donau mitunter ernüchtern.
Melisa, 27, aus Ayvalik/Izmir (Türkei), seit neun Jahren in Wien
Melisa Kücüksütcü: “Ich habe hier Anschluss gefunden.” (Foto: Melisa Kücüksütcü)
Wien wertet nicht.
Melisa ist 18 Jahre alt, als sie aus ihrer türkischen Heimatstadt Ayvalik, ohne Deutschkenntnisse, aber mit hohen Hoffnungen, zum Studieren nach Wien zieht. Den Traum als Architektin brachte sie mit.
Die Aussicht auf eine Universitäts-Inskription ohne vorige deutsche Sprachkenntnisse war Melisas Beweggrund für einen Umzug in eine fremde Stadt. An deutschen Universitäten sei eine Immatrikulation ohne Deutschkenntnisse komplizierter. Die Uni Wien biete günstige Deutschkurse an, die die Studierenden auf den Studienstart vorbereiten sollen.
Kaum in Wien angekommen, stieß Melisa auf bürokratischen Hürden. „Studentenwohnheime sind entweder ausgebucht oder zu teuer.“ Ein Recht auf Studienbeihilfe oder finanzielle Unterstützung des Staates hat sie als Drittstaat-Angehörige erst nach Erhalt der Daueraufenthaltskarte. Der Einstieg ins Studium erwies sich aufgrund der Sprachbarrieren als schwierig. Der Wiener Dialekt der Professoren war keine Hilfe. Auch Anschluss an andere Studierende zu finden war nicht leicht, denn die Wiener erwiesen sich als „zwar freundlich, aber distanziert“.
Trotz aller Bemühungen, andere Studierende kennenzulernen, blieben tiefe Freundschaften aus. Die Gruppen erwiesen sich als verschlossener, als sie es aus ihrer Heimat gewohnt ist. „Die Wiener bleiben lieber unter sich.“
Dennoch wohnt Melisa seit fast zehn Jahren in Wien. Wir von campus a haben nachgefragt, was sie trotz anfänglicher Schwierigkeiten so lange in der Stadt hielt.
„Es ist mittlerweile mein Zuhause. Ich habe einen großen Freundeskreis aus Einheimischen und Menschen verschiedenster Nationalitäten.“ Wiens Diversität ermöglicht das Vernetzen von Menschengruppen. Wien sei ein Knotenpunkt für internationale Kontakte. Manchmal vermisst die 27-Jährige die „Offenheit“, die Herzlichkeit der Menschen ihrer Heimatstadt in der Türkei. „Wien hat eine andere Art von Offenheit. Wien wertet nicht. Es ist den Leuten egal, was du anziehst, mit wem du dich umgibst und wo du dich aufhältst. Wien ist entwickelt und tolerant.“
Die Infrastruktur nennt sie als größten Pluspunkt ihrer Wahlheimat. Doch einen Kritikpunkt findet sie: „Ich würde mir sicherere Fahrradstraßen wünschen. Bims, Autos und Fahrräder auf einer Fahrbahn ist einfach unsicher.“
In einem Punkt sei Wien unschlagbar: Lifestyle und Nightlife. Die Studentin besucht regelmäßig die Musik- und Open-Air-Festivals. „Es geht immer was ab, Wien ist immer lebendig.“ Auch sportlich lebt sie sich aus: Snowboarden, bouldern, Volleyball spielen und in den nahegelegenen Bergen wandern sind nur wenige ihrer Aktivitäten.
Sportangebot, Diversität, Nightlife. Sind die Vorzüge der Stadt genug, um als „lebenswert“ betitelt zu werden? „Eine der lebenswertesten Städte ist Wien auf jeden Fall.“ Für eine finale Bilanz müsste sie vorerst in andere Städte ziehen bleibt aber lieber „Daheim“ in Wien.
Paulina Gussner, 28, aus München, seit sechs Jahren in Wien
Paulina Gussner aus Deutschland: “Der Wiener Grant ist wahr.” . (Foto: Paulina Gussner)
Wien ist schön – aber nur auf den ersten Blick
Paulina, von ihren Freunden „Pauli“ genannt, verliebte sich vor zehn Jahren in Wien. Begeistert vom Altbau-Charme, der Nähe zur Natur und dem Gedanken, München gegen eine bezahlbare Stadt einzutauschen. „Wenn ich mal studiere, dann an der Uni Wien! Die hat Hogwarts-Vibes!“
Die Münchnerin wusste um die Vorteile Wiens: Freizeitmöglichkeiten, Nightlife, Sozialwohnungen, ein vielfältiges Bildungssystem. Doch da war auch ein leiser Zweifel, den sie nicht ignorieren konnte. Der berühmte „Wiener Grant“. „Man liest es in Foren und in Artikeln. Die Wiener gelten als unfreundlich. Und das nicht nur klischeehaft, sondern fast schon stolz!“ Trotzdem ließ sich Pauli nicht abschrecken und packte die Kartons für Wien.
Sechs Jahre später, nach mehreren Umzügen, zuerst in den 9., dann in den 16. Bezirk, wollen wir von campus a wissen: Hat sich der Grant bestätigt? „Leider ja“, sagt Pauli nüchtern. „Die Wiener sind wirklich unfreundlich. Bei Jüngeren geht’s noch, aber gerade die ältere Generation lebt den Grant regelrecht.“ Der einstige Hogwarts-Zauber der Universität Wien sei schnell verflogen. Die Studienzeit war okay, mehr nicht. Und das soziale Miteinander? Enttäuschend. Sie habe sich dem Grant angepasst. „Anfangs war ich freundlich, wie man’s eben aus Bayern kennt. Aber irgendwann hab ich aufgegeben.“
Sie erzählt von Alltagssituationen, die sie ärgern. Vom Busfahrer, der lachend vorbeifährt, während sie zum Bus sprintet. Von Kassiererinnen, die nicht zurückgrüßen. Und von ihrer Zeit als Kellnerin, in der sie erst dann Trinkgeld bekam, als sie, auf den Rat eines Kollegen, ihre Freundlichkeit ablegte. „Sei mal ein bisschen härter zu den Gästen. Die Wiener mögen diese aufgesetzte Freundlichkeit nicht!“
Ihr Eindruck: Die Lebensqualität in Wien ist stark vom jeweiligen Bezirk abhängig. Um günstigen Wohnraum zu finden, orientierte sie sich eher am Preis als am Wohlfühlfaktor. Spürbare Einschnitte in der Lebensqualität waren die Folge.
Trotz allem Grant bleibt sie. Warum? Gastronomie, Nightlife, Festivals, Sport und vor allem: Outdoor-Möglichkeiten. Ob Sommer oder Winter, Wien biete alles, was das Sportlerherz begehrt. Die Donauinsel nennt sie liebevoll „Sportinsel“, wenn sie mit ihrem Rennrad entlang flitzt. „Das hebt Wien wirklich von anderen Großstädten ab. Ein riesiger Pluspunkt.“
Trifft in Paulis Fall das Paris-Syndrom auf Wien zu? Nicht wirklich. Sie liebt die Stadt an sich, die Gebäude, die Natur. „Das Leben hier könnte so schön sein, wenn die Menschen nur ein bisschen netter wären.“
Tim Körting, 29, aus Wiesbaden, seit sieben Monaten in Wien
Tim Körting: “Durch Musikevents lerne ich viele Leute kennen.” (Foto: Tim Körting)
Wien hat es geschafft, dass ich mich nach nur wenigen Monaten so wohlfühle.
Tim ist selbstständig in der Event-Branche tätig und genießt örtliche Flexibilität. Er zog aus Wiesbaden nach Frankfurt, Mainz, Berlin und zuletzt von Hamburg nach Wien. Mit dieser Großstadt-Bilanz zieht er konkrete Vergleiche in Puncto Lebensqualität. Bisher konnten ihn die Orte nicht langfristig halten. Hat Wien eine Chance auf Tims langfristigen Wohnort?
Vor seinem Umzug aus Hamburg stand neben Wien auch Zürich zur Auswahl. Nach mehreren Wochenendtrips ist Tim begeistert von der „Wiener Ästhetik“, dem Altbau-Charme, der Nähe zur Natur, vom „Vibe“ der Menschen. „Außerdem überzeugt Wien mit seinem Großstadt-Flair. Es ist leichter Anschluss zu finden als in einer kleineren Stadt, in der alle schon in ihren „Bubbles“ leben“, argumentiert der 29-Jährige.
Die erste positive Überraschung? Die niedrigen Mietpreise. Für eine voll möblierte Wohnung mit Blick auf die Donau bezahlt er die Hälfte von dem, was er in Hamburg mit vergleichbar beliebter Lage zahlte. Zunächst überzeugte ihn die Infrastruktur. Ob mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit den Öffis. „Ich habe mir abgewöhnt zur Bahn zu sprinten, weil die nächste ja sowieso in 2 Minuten fährt.“
Tim hörte ebenfalls vom berühmtberüchtigten Wiener Grant, aber nur in der Theorie. „Wenn, dann sind es eher die älteren Ur-Wiener, die den Wiener Schmäh leben. Aber irgendwie dürfen die das auch. Es gehört quasi zur Kultur“ sagt er mit einem milden Lächeln. Die jüngeren Wiener, mit denen er beruflich oder privat zu tun hat, nimmt er als „locker“ und „offen“ wahr, knüpft leicht Kontakte. Sie ermöglichen es ihm, sich schnell heimisch zu fühlen. „Nach zehn Umzügen hat Wien es geschafft, dass ich mich nach nur wenigen Monaten so wohlfühle. Sonst dauerte es Jahre, bis ich mich in einer Stadt „Zuhause“ fühlte.“
Anschluss findet der Hobby-DJ durch Sport, Events und Nightlife. Besonders die vielfältige Festival-Auswahl im Bereich Techno, House und Elektro besucht er regelmäßig, wie auch die rabattierten Angebote im Bereich Kunst & Kultur. Stolz zeigt er uns seine Bundesmuseen-Card. „Sonntag ist mein Museumstag geworden, seitdem ich in Wien lebe. Da komme ich richtig runter. Die vielen Angebote sind für Tim Fluch und Segen zugleich. „Es finden so viele Events gleichzeitig statt. Entweder ich verpasse eins oder ich kann mich nicht entscheiden.“
Einen Kritikpunkt findet Tim auf die Schnelle nicht. Nach langer Bedenkzeit nennt er die hohen Lebensmittelpreise, relativiert diesen aber gleich wieder. „Die sind in Deutschland auch nicht niedriger.“
Zu guter Letzt schwärmt Tim vom vielen Grün in jedem Bezirk. Er betont die Weite und das Phänomen, wie riesig die Stadt ist und dennoch alles innerhalb einer halben Stunde erreichbar. Sein letzter Pluspunkt ist die Donauinsel mit ihren Bademöglichkeiten. „Das hebt Wien schon sehr von anderen Großstädten ab.“ Zum Abschluss zieht er einen Vergleich zwischen seinen bisherigen Heimatorten. „Hamburg war schon krass, aber Wien ist einfach besser!“
Barbora Opatovská, 20, aus Trnava (Slowakei), seit acht Monaten in Wien
Barbora Opatovská: “Wien ist meine persönliche Galerie.” (Foto: Barbora Opatovská)
Wien ist nie langweilig, aber teuer.
Barbora brach für das Publizistik-Studium in Richtung Wien auf. Ihre Heimatstadt Nähe Bratislava ist nicht weit, sie kennt Wien aus der Touristen-Perspektive gut. Als Kunst-Liebhaberin zog es sie in die Stadt der Kunst, der Kultur und des Kaffees. Entschied sich dabei gegen Prag und Amsterdam, die ebenfalls zur Debatte standen.
Mit dem B2 Deutsch-Level in der Tasche ging es vor Studien-Start ins Sprachzentrum der Uni Wien. Für das Studium wird das Level C1 verlangt. Die Aussicht auf schnelle Spracherfolge relativierten sich schnell. Es hieß, die Studierenden würden mit ihrer Immatrikulation einen Platz in der Sprachschule bekommen. Doch die Anmeldung erwies sich als kompliziert, teuer und ausgebucht. „Das Bildungssystem in Wien wirbt so sehr mit ihrer Internationalität, lockt viele Studierende aus anderen Ländern. Aber so richtig willkommen fühle ich mich nicht.“ Sie und viele ihrer Studienkollegen, die nicht die deutsche Sprache beherrschen, fühlen sich allein. Sie fahren an freien Tagen zurück in die Heimat, enttäuscht von der fehlenden Unterstützung.
Doch das Studienprogramm verleiht Hoffnung. Barbora erzählt von einem „Buddy-Programm“, bei dem Masterstudenten sich mit zugezogenen Erstis verbinden. Sie zeigt lächelnd ein Foto von sich und anderen Studierenden mit Weingläsern in den Händen. „Letztes Wochenende haben sie eine Weinwanderung in die Berge organisiert. Und neulich eine Führung durch die Redaktion der Lokalzeitung.“
Die Mietpreise waren höher als erwartet. Am Ende fand sie, mit viel Mühe, ein kleines Zimmer in einem Studentenwohnheim. Das Kontakteknüpfen wird dank des Wohnheims nur bedingt leichter. „Die Österreicher sind ziemlich verschlossen. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt.“
Die hohen Lebensmittelpreise sind spürbar, ist sie derweil auf ihr Erspartes angewiesen. Sie erhält keine finanziellen Beihilfen vom Staat. Die Jobsuche sei zäh. „Ich habe mich auf eine ausgeschriebene Stelle beworben, aber nie eine Antwort erhalten. Wenigstens eine Absage hätten sie schicken können.“
Barbora nutzt die kostengünstigeren Vorteile der Stadt und konzentriert sich auf ihr Studium, gewillt, die Sprache besser zu beherrschen und mehr Orientierung zu erlangen. Dafür besucht sie regelmäßig neue Bibliotheken. „Jede hat ihr ganz eigenes, besonderes Flair.“
Auch nach der Lerneinheit findet sie Möglichkeiten, ihr neues Zuhause „on a low budget“ kennenzulernen. Sie berichtet von kostenfreien Events, die sie aus der Heimat noch nicht kannte. Coffee-Raves, Techno-Brunchs, thrifting-Events. Dort fühle sie sich aufgehoben und genießt die „come as you are“-Atmosphäre. Während sie durch kostenlose Angebote Neues entdeckt, musste sie Altes aufgeben. „In meiner Heimat war ich in einem Tanz-Verein. Aber 30 Euro für eine Stunde ist einfach zu teuer.“
Barbora erhoffte sich vom guten Ruf der Stadt viel. Umso größer die Enttäuschung der finanziellen Hürden, die ihr das volle Potenzial Wiens vorenthalten. Dennoch bleibt sie, überzeugt von der Schönheit, die die Stadt bietet. „Die Stadt ist so schön. Wien ist meine Galerie.“
Nattasha Otero Fernandes, 35, aus Rio de Janeiro (Brasilien), seit acht Jahren in Wien
Nattasha Otero Fernandes: “Ich sehnte mich nach Ruhe und Gelassenheit.” (Foto: Nattasha Otero Fernandes)
Wien ist wie eine Mutter. Ich bin sehr dankbar hier leben zu dürfen.
Mit einem herzlichen „Servus“ und einem offenen Lächeln begrüßt uns Nattasha in einem Büchercafé im 17. Bezirk. Die 35-Jährige kommt aus Rio de Janeiro. 2016 arbeitete sie als Krankenschwester im Sanitätsdienst der Olympischen Spiele in Rio, als ihr ein britischer Kollege einen beiläufigen Ratschlag gab. „In Europa werden Pflegekräfte immer gesucht!“
Wenig später reiste sie mit ihrem damaligen Mann quer durch Europa, besuchte London, Brüssel, Rom, Dublin, Paris, Barcelona. Die letzte Station vor der Heimreise: Wien. Oder fast die letzte. Denn diese Stadt, erinnert sich Nattasha, blieb hängen. „Wien war die vorletzte Stadt, die wir besucht haben. Und die, die mich am meisten begeistert hat. In den Christkindlmarkt hab ich mich sofort verliebt.“
Im Februar 2017 kehrte sie mit Umzugskartons zurück. Aufgewachsen in Rio sucht sie in Wien Ruhe, Gelassenheit und vor allem: Sicherheit. „In Rio würde ich niemals mit Schmuck oder dem Handy in der Hand durch die Straßen gehen.“ Ein Einkauf in der Innenstadt bedeutete in Rio Anspannung, Zeitdruck, Hektik. In Wiens städtischer Natur atmet sie auf. Hier wohnt sie heute mit ihrem Freund in einer Genossenschaftswohnung. Ein Glück, wie sie sagt, denn allein hätte sie keinen Anspruch gehabt. „Das ist verglichen mit Rio so günstig!“
Doch das Einleben war nicht reibungslos. Die Sprache, dachte sie, würde sie schnell erlernen. Aber die Realität sah anders aus. „Ich habe gehofft, schneller Anschluss zu finden, aber ohne Deutsch kam ich nicht weit.“ Anfangs vermied ihr Umfeld mit ihr Englisch zu sprechen. Ihr Eindruck: Wer kein Deutsch spricht, gehört nicht zur Gesellschaft. Die Erkenntnis überraschte sie in einer Weltmetropole wie Wien.
Kaum überwand sie die Sprachbarriere, wartete die nächste Herausforderung: Die Bürokratie. Die Anerkennung ihrer Abschlüsse blieb aus. Was sie in Rio über Jahre studierte, fand in Österreich wenig Beachtung. Sie kämpfte mit Ämtern, Papieren und Bürokratie. Das kostete sie viel Geld, Zeit und Nerven.
Auch das Gesundheitssystem trübt das Gesamtbild. Als Krankenschwester arbeitet sie im Krankenhaus. „Das System ist überlastet. Wir haben zu viele Überstunden.“ Bei ihren eigenen Arztbesuchen spürt sie Desinteresse. Österreich sei fortschrittlich, was Entwicklungen in der Technologie betrifft. Doch der Fortschritt wird durch mangelndes Engagement der Ärzte überschattet. Ein Vorteil ihres Arbeitsplatzes in Wien verglichen mit Rio sei ihr Verdienst. Mit dem höheren Einkommen sei sie endlich in der Lage, lang erträumte Fortbildungen zu absolvieren.
Die Vorteile überwiegen und halten sie seit Jahren in der Stadt. Sie entdeckt gerne neue Cafés, Restaurants und besucht Konzerte. Mit ihrem Freund führt sie eine Bucket-List mit Aktivitäten, die sie ausprobieren wollen. „Bei dem Angebot kommen wir gar nicht hinterher“, sagt sie lachend. Sie entdeckt Sportangebote, die sie noch nicht kannte, wie Pilates-Brunchs oder neue Yoga-Arten. „Alle hier sind so sportlich, sind mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs. Ein Auto brauche ich nicht mehr“, erinnert sie sich an das stundenlange Pendeln zur Uni in Rio.
Aufgewachsen in Rios Tumult, betont sie wiederholt ihre neu gewonnene Sicherheit und Gelassenheit. Sie schaut gerne zu, wie die Menschen zwischen den ästhetischen Gebäuden schlendern und Wien genießen. Ihre Dankbarkeit ist deutlich zu spüren. „Wien ist wie eine Mutter. Ich bin sehr dankbar, hier leben zu dürfen.“
Die Antwort auf die Frage, ob Wien dem Titel als lebenswerteste Stadt gerecht wird, ist und bleibt wie immer: subjektiv. Die einen finden zwischen Kaffeehaus und Donauinsel ihren Wohlfühlort, die anderen eher den Grant als Willkommensgeschenk. Aber in einem sind sich die meisten einig: die Ästhetik, die Architektur, die Kaffeekultur und die grünen Natur-Spots machen die Stadt unverwechselbar. Das Paris-Syndrom trifft selten ein. Wien und seine Menschen bleiben einzigartig und bieten ein breites Angebot in allen Belangen. Was die Zugezogenen daraus machen, bleibt ihnen überlassen.
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