
Indien hat TikTok vergangenes Jahr verboten. Nepal ebenfalls. In den USA unterschrieb der Präsident ein Gesetz, das die App zum Verkauf zwingt. In Brüssel warnen Datenschützer seit Monaten vor der Marktmacht des Konzerns hinter TikTok. Viele westliche Politikerinnen und Sicherheitsbeamte werfen der App vor, Daten zu sammeln, Stimmungen zu analysieren und Nutzerinnen gezielt zu beeinflussen.
TikTok erkennt, was Menschen interessiert, bevor sie es selbst wissen. Der Algorithmus spielt Inhalte aus, die passgenau unterhalten oder empören. Wer die App öffnet, sieht sofort das nächste Video. Kein Startbildschirm, keine Orientierung, kein Halt. Die Clips folgen in hoher Taktung. Die Plattform baut auf Sucht, nicht auf Auswahl.
Diese Kritik ist berechtigt. TikTok verführt zur Ablenkung. Doch wer dort stehen bleibt, übersieht, was sich parallel entwickelt.
TikTok ist auch eine Einladung. Die App fragt nicht nach Lebenslauf oder Kontakten. Sie fragt nicht nach Studienort oder Presseausweis. Wer eine Idee hat, wer Haltung zeigt, wer in wenigen Sekunden etwas Relevantes erzählt, bekommt Reichweite. Es zählt nicht, wer spricht, sondern wie gesprochen wird.
In den klassischen Medien bleibt der Zugang begrenzt. Redaktionen entscheiden, welche Geschichte Relevanz hat. TikTok funktioniert anders. Hier entscheidet das Publikum in Echtzeit. Wer mit einem Handy, einer klaren Perspektive und etwas Mut aufzeichnet, was sonst übersehen wird, wird sichtbar. Ohne Filter, ohne Torwächter.
Viele junge Journalistinnen entdecken TikTok als Werkzeug. Sie filmen ihren Alltag auf der Kinderstation, berichten von Gerichtsverhandlungen, zeigen, wie sie recherchieren. Sie erklären komplexe Gesetzestexte, erzählen, wie Armut das Leben verändert, und dokumentieren, was in Schulen, Pflegeheimen oder auf Baustellen geschieht.
Diese Inhalte erreichen Menschen, die keine Zeitung lesen, kein Radio hören, keine Nachrichtensendung sehen. TikTok schafft Reichweite für Inhalte, die in traditionellen Medien kaum stattfinden. Es geht nicht um Inszenierung. Es geht um Sichtbarkeit.
TikTok ersetzt keine Recherche. Es ist kein Ort für tiefe Analysen. Aber es zeigt, dass Öffentlichkeit auch anders funktionieren kann. Schneller, direkter, aufmerksamer. Wer sich dort gut ausdrückt, wer verständlich bleibt, wer eine Haltung zeigt, wird gehört.
Viele Medienhäuser könnten von dieser Nähe profitieren. TikTok zwingt dazu, präzise zu erzählen. Es erlaubt Fehler, fordert aber Authentizität. Die besten Inhalte dort kommen nicht aus Studios, sondern aus Küchen, Pflegezimmern und Straßenecken. Sie sind oft ungeschliffen, aber ehrlich. Genau darin liegt ihre Kraft.
Natürlich muss TikTok reguliert werden. Daten dürfen nicht in falsche Hände geraten. Minderjährige brauchen Schutz. Der Algorithmus gehört überprüft. Aber ein Verbot löst kein Problem. Es schneidet nur Millionen Menschen von einem Ort ab, an dem sie Informationen finden, sich austauschen und ihre Erfahrungen teilen.
TikTok ist nicht harmlos. Aber es ist auch nicht nur gefährlich. Es ist ein Spiegel unserer Zeit. Wer dort genau hinschaut, erkennt neue Formen von Journalismus, neue Arten von Debatte, neue Stimmen.
TikTok ist nicht das Ende der Aufklärung. Es ist ihr Update. Es bringt Themen nach oben, die sonst im Hintergrund bleiben. Es macht sichtbar, wer lange übersehen wurde. Aufklärung bedeutet nicht nur, zu erklären. Sie beginnt dort, wo Menschen anfangen, gehört zu werden. TikTok liefert das Werkzeug – was wir daraus machen, liegt bei uns.
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