
In einer Welt, die zunehmend von geopolitischen Spannungen, wirtschaftlichen Machtkämpfen und militärischem Aufrüsten geprägt ist, wirkt Europa wie ein Zuschauer am Rand des Geschehens. Während China, Russland und die USA klare Ambitionen verfolgen, herrscht auf dem Kontinent Zurückhaltung. Doch gerade jetzt, inmitten globaler Umbrüche, könnten sich historische Chancen für Europa eröffnen.
Der Militärexperte Gerald Karner spricht im Interview über die innenpolitischen Hürden, die sicherheitspolitische Trägheit und darüber, warum Europas Zukunft als Weltmacht vom eigenen Selbstverständnis abhängt.
campus a: Europa wirkt im Vergleich zu den Großmächten Russland, USA und China zunehmend wie eine Randfigur. Dabei zeigen Geschichte und politische Theorie, dass Vielfalt und Demokratie auf lange Sicht zu den erfolgreichsten Modellen gehören. Hat Europa angesichts des globalen Umbruchs nicht gerade jetzt die Chance, selbst zu einer dominierenden Weltmacht aufzusteigen?
Gerald Karner: Absolut, die Chance ist da, und Europa hätte auch das Potenzial. Was allerdings fehlt, ist das Bewusstsein dafür.
Warum mangelt es ausgerechnet daran?
Das hat viel mit unserer Geschichte zu tun. Europa war über Jahrhunderte hinweg von inneren Kriegen und Rivalitäten geprägt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der Wille, zumindest untereinander keine Kriege mehr zu führen. Doch die alten Gegensätze wirken bis heute nach. Ein gutes Beispiel dafür ist die Situation rund um das Jahr 1991 nach dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion. Europa lagerte schrittweise die Produktion nach Osteuropa und später nach China aus. Europa wollte sich auf das Schöne im Leben konzentrieren: eine grüne Umwelt, gute Lebensqualität, regionale Produkte. Den militärischen Schutz hat Europa den USA überlassen. Diese Arbeitsteilung, wir genießen den Frieden, Amerika schützt und China produziert, war bequem, aber gefährlich kurzsichtig.
Was bedeutet das für Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit?
Ein echtes Gemeinschaftsbewusstsein, die Überzeugung, dass wir als Europa zusammengehören, würde automatisch bedeuten, dass wir auch bereit sind, dieses Gemeinsame zu schützen. Dafür braucht es auch entsprechend leistungsfähige Streitkräfte.
Wenn Europa das Gemeinsame aber egal ist, oder nur jeder nur sein kleines nationales Territorium schützen will, bleibt auch die Fähigkeit beschränkt, die gemeinsamen Interessen zu schützen. Wer als Weltmacht auftreten will, muss Fähigkeiten zur Machtprojektion entwickeln und das beginnt bei der Finanzierung: Zwei Prozent des BIP reichen dafür nicht aus, es müssten, wie in den USA, drei bis fünf Prozent sein.
Hat Europa denn überhaupt ein Interesse daran, eine geopolitische Großmacht zu werden?
Bisher zeigen sich die Europäer eher zurückhaltend. Viele Entscheidungsträger wollen sich an den globalen Machtspielen nicht beteiligen. Doch vor allem Russland fordert diese Haltung zunehmend heraus. In Osteuropa, von Polen über Moldau bis Rumänien wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines gemeinsamen und aktiven sicherheitspolitischen Engagements. Diese Staaten blicken mit Sorge auf das, was aktuell in der Ukraine passiert und auf das, was etwa auch in Georgien passieren könnte.
Was meinen Sie konkret: Wenn Russland in der Ukraine erfolgreich ist, droht dann ein nächster Schritt?
Ja, zweifellos. Dafür müsste Russland nicht einmal die gesamte Ukraine besetzen, schon eine Teilkontrolle würde als geopolitischer Erfolg gewertet. Ein solcher Erfolg würde zwangsläufig Begehrlichkeiten wecken. Die Frage ist dann nicht mehr, ob ein nächster Schritt kommt, sondern wann.
Wie gut ist Europa auf dieses „Wann“ vorbereitet?
Das ist das große Problem: Den Worten folgen keine Taten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht gerne von strategischer Autonomie, aber umgesetzt wird wenig. Auch der ehemalige deutsche Kanzler Olaf Scholz spricht von einer „Zeitenwende“, doch wirklich spürbar ist diese Wende bislang im Sinne einer realen Antwort auf diese Feststellung nicht.
Wo sehen Sie für Europa dennoch eine realistische Chance?
Wenn das System in China durch interne Brüche, etwa durch wirtschaftliche und ethnische Verwerfungen, zu starke Vereinheitlichung und Indoktrination, ins Wanken gerät, und wenn die USA durch innenpolitische Spannungen, soziale Ungleichheiten oder eine zweite Trump-Präsidentschaft geschwächt werden, dann öffnet sich für Europa ein strategisches Fenster. Aber um diese Chance zu nutzen, muss sich in Europa ein echtes Gemeinschaftsbewusstsein entwickeln. Nur so kann aus Potenzial auch echte geopolitische Stärke werden.
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