
Online ging vieles, aber nicht alles. Seit der Pandemie ist digitale Lehre Alltag geworden. Doch an vielen Unis wächst die Sehnsucht nach echten Begegnungen, vollen Hörsälen und spontanen Gesprächen auf dem Gang.
Campus Altes AKH, Freitagnachmittag. Die Sonne bricht durch die Baumkronen, Studierende plaudern bei Kaffee auf Holzbänken. Mittendrin sitzt Charlotte (23), Geschichtestudentin im Master an der Uni Wien. „Die ersten zwei Jahre war Uni für mich nur ein Zoom-Link und ein PDF-Download“, sagt sie. „Erst seit ich wirklich hier bin, merke ich, wie viel da eigentlich gefehlt hat.“
Vor fünf Jahren war der Campus voll, die Hörsäle waren dicht besetzt, die Cafeterien laut. Dann kam die Coronapandemie und mit ihr das große Verstummen. Plötzlich fand Universität nicht mehr im Hörsaal statt, sondern im Wohnzimmer, am Küchentisch, vor dem Bildschirm.
Charlotte verbrachte ihre ersten Semester fast ausschließlich online. Mikro aus, Kamera selten an. „Anfangs war das bequem. Aber irgendwann fehlte alles, was Uni eigentlich ausmacht.“
So wie ihr ging es vielen. Die Pandemie hat die Hochschullehre grundlegend verändert. Vieles davon ist geblieben: Zoom statt Hörsaal, Moodle statt Mensa, Breakout-Rooms statt Diskussionen auf dem Gang.
Heute, im Sommer 2025, laufen einige Kurse online, manche hybrid, viele wieder ganz in Präsenz. Doch eine Frage bleibt: Braucht es die Hörsaal überhaupt noch?
Digitale Formate bieten Vorteile: geringere Kosten, größere Flexibilität, bessere Vereinbarkeit mit Beruf oder Familie. Vorlesungen lassen sich aufzeichnen, Seminare ortsunabhängig besuchen. Doch nicht alles lässt sich ins Digitale übertragen.
In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychologie heißt es klar: Präsenzveranstaltungen sind ein „unverzichtbarer Bestandteil qualitativ hochwertiger Hochschullehre“. Die Psychologie betont, dass Lernen nicht nur die Aufnahme von Informationen bedeutet, sondern ein sozialer Prozess ist – geprägt von Interaktion, Feedback, Persönlichkeitsentwicklung. Besonders in Seminaren, Praktika und Kleingruppenprojekten lassen sich zentrale Kompetenzen nicht in den digitalen Raum übertragen.
Sabine Haring-Mosbacher, Soziologin an der Universität Graz, warnt: „Je interaktiver, desto stärker braucht es die Präsenz.“ Bei digitaler Lehre gehen nonverbale Zeichen, wie Mimik, Körperhaltung und Aufmerksamkeit verloren. „Man sieht die Gesichter oft nicht. Und auch die Technik funktioniert nicht immer.“ Besonders Studienanfänger, die während der Pandemie ins Studium gestartet sind, hätten sich schwer getan, Lerngruppen zu finden.
Auch die Medien berichteten früh über diese Entwicklung. Der ORF sprach während der Pandemie von Studierenden, die sich in „Zoom-Welten“ verloren fühlten. Technisch funktional, aber emotional entkoppelt. Die Rede war von einem „guten Mittelding“ zwischen Präsenz und Online. Doch auch das hat Grenzen: Interaktive Gruppenarbeiten gelingen online nur schwer, Feedback fehlt oft völlig. Schwarze Kacheln statt Gesichter, leere Chats statt hitziger Diskussionen.
Die Universität ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch ein sozialer Raum. Haring-Mosbacher beobachtet, dass sich viele Studierende durch den fehlenden persönlichen Kontakt schwer damit tun, sich in der Universität zurechtzufinden. Nicht nur fachlich, sondern auch menschlich. „Über Präsenz lernen sie andere Studierende kennen, mit denen sie sich austauschen können.“
Erst wenn Beziehungen entstehen, können digitale Formate sinnvoll ergänzt werden. Ohne diese Grundlage verpuffen Onlinekurse oft im Multitasking: „Kochen während der Vorlesung funktioniert nicht gut“, meint sie schmunzelnd.
Die Österreichische Hochschülerschaft (ÖH) betont zwar die Vorteile von Onlineformaten, gerade für Eltern oder Berufstätige. Doch sie fordert auch: keine Ersatzwelten. Präsenzlehre darf nicht zur Ausnahme werden.
Wie wichtig physische Begegnung selbst in Extremsituationen bleibt, zeigt die Invisible University for Ukraine (IUFU). Sie entstand 2022 während massiver russischer Angriffe auf die Infrastruktur. Trotz Stromausfällen und Flucht organisierten ukrainische und internationale Lehrende digitale Seminare – aus Kellern, mit Powerbanks, oft bei Kerzenlicht.
Was als Notlösung begann, wurde rasch zu einem Raum für kritisches Denken. Themen wie Identität, Geschichte und Verantwortung standen im Mittelpunkt. Und dennoch: Die Initiatoren betonten stets, dass digitale Formate kein Ersatz seien. Deshalb organisierte die IUFU Sommer- und Winterschulen in Lwiw und Budapest, wo sich die Studierenden erstmals persönlich begegneten. Mit Blickkontakt, mit echten Gesprächen.
Der Eindruck aus diesen Begegnungen war klar: Bildung lebt nicht von Inhalten allein, sondern von Austausch. Oder wie Haring-Mosbacher sagt: „Digital geht einfach viel verloren.“
Ein weiteres Argument für digitale Lehre lautet oft: mehr Chancengleichheit. Doch genau das ist nicht immer gegeben. Alte Ungleichheitsparameter verstärken sich eher. Wer keinen Laptop hat oder zuhause keinen ruhigen Arbeitsplatz, gerät ins Hintertreffen. Bildungsferne Schichten sind oft schlechter ausgestattet, Eltern könnten weniger unterstützen.
Hinzu kommt die Frage nach Eigenleistung: „Prüfungen vor Ort, mündliche Prüfungen braucht es, damit ChatGPT nicht alles übernimmt“, so Haring-Mosbacher. KI könne helfen, Texte zu überarbeiten. Aber wenn kein echter Austausch stattfindet, gehe Tiefe verloren.
Gleichzeitig hat sich durch die Pandemie ein souveränerer Umgang mit digitalen Tools entwickelt. Lehrende und Studierende nutzen virtuelle Formate gezielt, das ermögliche heute einen flexiblen Umgang. Etwa wenn jemand krank wird und online dazugeschaltet werden muss oder Gastlehrende nicht das ganze Semester vor Ort sind. Daraus haben sich allerdings auch neue Erwartungen entwickelt. „Viele Studierende fragen heute selbstverständlich, ob man die Einheit zum Nachschauen aufzeichnen kann.“
Für die Soziologin ist klar: Die Zukunft liegt nicht im Entweder-oder. Digitale Lehre hat ihren Platz, aber als Ergänzung, nicht als Ersatz. „Präsenzunis sind für junge Menschen attraktiver“, sagt sie. Vor allem in Großstädten wie Wien wolle niemand ausschließlich online studieren. Der Campus bleibt zentral als Ort der Begegnung und Erfahrung.
Zurück zu Charlotte. Inzwischen hat sie ihren Kaffee ausgetrunken. Sie schaut auf die Uhr, packt ihren Laptop in die Tasche. Gleich beginnt ihr nächstes Seminar. Nicht online, sondern im alten Hörsaal 41. Sie freut sich. „Nicht auf die Folien, die könnte ich mir auch zu Hause anschauen“, sagt sie, „sondern auf die Gesichter und Diskussionen.“
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Vorlesungen in Präsenz kann ich sehr begrüßen! Durch unser Digitales Zeitalter , geht oft sehr viel Individualität verloren, vieles wird gleichzeitig gemacht ! Die Konzentration geht dadurch verloren .. Ich merke auch in meiner Arbeit als Psychotherapeutin , dass die Aufmerksamkeitsspanne kleiner wird , je mehr Reize es gibt ! Vor allem auch bei Kindern und Jugendlichen . Der direkte Dialog bietet eine Chance sich wieder ganz auf sein Gegenüber zu konzentrieren oder auch die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten :Zuzuhören! Ein Austausch mit allen 5 Sinnen ist nur analog möglich ! Irene Bittner
21 June 2025