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Ist Syrien für Syrer inzwischen wieder eine Rückreise wert?

Allen Bedenken zum Trotz schob Österreich als erster EU-Staat wieder einen Straftäter nach Syrien ab. Donald Trump hob die US-Sanktionen gegen das Land auf. Allmählich kehren die ersten Geflüchteten in das Land zurück. Fast entsteht der Eindruck, es sei wieder eine Zeit von Frieden und Stabilität angebrochen. Doch wie sieht es wirklich aus? Ist Syrien tatsächlich wieder eine Rückreise wert?
Robert Gafgo  •  12. Juli 2025 Redakteur    Sterne  638
Hinter Syrien liegen knapp 14 Jahre des Bürgerkriegs und 54 Jahre der Herrschaft des Assad Clans. (Foto: Shutterstock)
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Das Konterfei von Bashar al-Assad prangt in Überlebensgröße an der Fassade des Büros der Provinzregierung der Stadt Hama. So wie viele Bilder und Fresken von Syriens gestürztem Diktator ist auch hier das Gesicht getilgt und von dutzenden Einschusslöchern übersät. Sein Andenken für die Nachwelt verdammt.

Wiedergeburt

Das Land und seine Menschen haben tiefe Narben. Immer wieder flammt die Gewalt von Neuem auf. Bei einem Selbstmordanschlag des Islamischen Staats auf eine Kirche vergangenen Juni in Damaskus etwa. Mindestens 25 Menschen kamen ums Leben. Gleichermaßen berichten auch andere Minderheiten des Landes von gewalttätigen Übergriffen und Verschleppung. Währenddessen sind noch Streitkräfte der Türkei, Israels und der USA im Land stationiert.

Inmitten dieses Nachkriegschaos bemüht sich die neue Regierung unter Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa um Ordnung und Wiederaufbau. Das gelingt ihr in einigen Regionen besser, in anderen schlechter. Der neue Friede ist getrübt von Ungewissheit, die auch international spürbar ist. Dennoch hoben die USA und die EU anfänglichen Zweifeln zum Trotz ihre Sanktionen auf. Dringend benötigten Investoren steht das Land wieder offen. Zudem schob Österreich seinen ersten syrischen Straftäter wieder nach Syrien ab.

Sind das Garanten für Stabilität und Frieden? Nicht zwingend, die Realität ist weitaus komplizierter. Die tatsächlichen Umstände sind schwer zu überprüfen.

Neben den Trümmern bleibt vor allem die Erinnerung an die Zeit des staatlichen Terrors. Der knapp 14 Jahre währende Bürgerkrieg forderte zwischen 350.000 und 650.000 Menschenleben und zwang mehr als 13 Millionen zur Flucht. Baschar al-Assads Herrschaft mag vergangen sein, aber ihr Schatten reicht bis in die Gegenwart. Assads Krieg gegen die eigene Bevölkerung wurde zum kollektiven Trauma. Dennoch überwiegt bei vielen Syrerinnen und Syrern die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Aufbruch

„Der Sturz des Regimes am 8. Dezember 2024 fühlte sich wie ein Neuanfang an. Wie das Erwachen aus einem jahrelangen Albtraum. Ich kenne niemanden aus der syrischen Bevölkerung, der nicht erleichtert war. Letztlich kam der Tag, auf den wir alle gewartet haben“, erinnert sich Aboud Alibrahim. Er ist einer von rund 100.000 Angehörigen der syrischen Diaspora in Österreich.

Der 32-Jährige kam 2015 nach Österreich. Die ersten zwei Jahre lernte er die deutsche Sprache. „Danach habe ich beim Modehändler Zara gearbeitet, in einem Hostel, und bis Mai war ich Deutschlehrer für Nichtmuttersprachler. Derzeit bin ich arbeitslos und ziehe von Linz nach Wien.“ Zudem arbeitete er ehrenamtlich beim Roten Kreuz und leitete ein Sprachcafé. Grob umrissen seien das die Hauptpunkte seines Lebens in Österreich, so Alibrahim.

Eine Rückkehr nach Syrien ist für ihn ein lang gehegter Wunsch, aber jetzt ist es noch zu früh. Der Krieg zerstörte große Teile der syrischen Infrastruktur. Selbst die Hauptstadt Damaskus muss mehrere Stunden täglich ohne Strom auskommen. Doch in einigen Jahren gibt es für Alibrahim ein Wiedersehen. „Ich habe mich in Österreich integriert und mir ein neues Zuhause aufgebaut. Trotzdem war es bis zur Befreiung bitter, jeden Tag zu wissen, dass die eigene Heimat in den Händen von Kriminellen liegt.“

„Ich habe mich an das Leben hier gewöhnt. Es fällt mir schwer Österreich zu verlassen, aber ich möchte irgendwann zurück nach Syrien“, sagt Aboud Alibrahim. (Foto: privat)

Torwächter

Einen Vergleich zwischen dem alten Regime und der jetzigen Interimsregierung lehnt er konsequent ab. Das sei weder möglich noch gerecht. „Die jetzige Regierung besteht aus Menschen. Sie macht wie alle Menschen auch Fehler, aber die Anhänger des alten Regimes waren keine Menschen, sondern Monster“, erzählt er.

„Als Syrer“, wie er sagt, „erlebst du so viel. Egal, ob du gegen das Regime warst oder nicht.“ Einst verhafteten ihn militante Anhänger Assads, da einer seiner Bekannten Regimegegner war. Was folgte, waren Entführung, Schläge und Folter. „Ich wurde mit Stromschlägen gequält und an den Händen aufgehängt. Nur meine Zehenspitzen berührten den Boden, aber ich hatte Glück.“ Er hing nur für wenige Minuten. „Das war aber schon quälend genug. Andere hängten für Stunden, wieder andere vielleicht sogar länger.“ Nach acht Stunden endete die Haft.

Fälle wie dieser waren exemplarisch. Die ganze Überlebensstrategie des Regimes begründete sich auf ständiger körperlicher und psychologischer Folter sowie nie endender Überwachung. Reisen, die normalerweise nur drei Stunden dauerten, verlängerten sich durch eine Vielzahl von Checkpoints auf bis zu neun Stunden. Sofern eine sichere Ankunft überhaupt möglich war.

„Jeder einzelne Checkpoint war ein eigener Horrorfilm. Wir mussten immer unsere Ausweise und eine Bestätigung vorlegen, die uns vom Wehrdienst befreite. Andernfalls standen uns Festnahme, Folter oder eine sofortige Hinrichtung bevor. So etwas passierte andauernd“, so Alibrahim.

Gotteskrieger

Die dschihadistische Vergangenheit der Interimsregierung stellt für den jungen Syrer kein Problem dar. „Die Medien verwenden Begriffe wie ‚Terrorist‘ oder ‚Dschihadist‘ übermäßig oft. Die Rebellen, die jetzt an der Regierung sind, haben Syrien und seine Bevölkerung verteidigt.“ Als Syrer, sagt er, sei er dankbar, dass sie die Diktatur zu Fall brachten.

Es ist besonders die einstige Mitgliedschaft von Interimspräsident al-Scharaa bei der Terrororganisation al-Qaida, die wiederholt für Bedenken sorgte. Doch der Rebellenführer brach bereits 2016 inmitten des Bürgerkriegs mit den Salafisten. Statt auf religiösen Eifer setzte er auf Politik und berechnenden Pragmatismus. Sowohl der IS als auch die al-Qaida sehen ihn seither als Verräter.

Al-Scharaas Regierung zeigt sich überraschend tolerant. Offizielle Stellen betonen, sich für den Schutz aller syrischen Minderheiten zu bemühen. Von den Drusen bis zu den Alawiten, der Gemeinschaft, der der Assad-Klan angehörte. In Reaktion auf den vergangenen Anschlag versprach die Regierung, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und der geschändeten Kirche ihren früheren Glanz zurückzugeben. Trotzdem bleibt das Misstrauen. Wiederholt tauchen Berichte über Verschleppung, Morde und Menschenrechtsverletzungen gegen religiöse Minderheiten auf. Mehrmals führte die Spur der Täter zu radikalen Islamisten innerhalb der neu aufgestellten Syrischen Armee.

Kompromisse

Nicht alle Maßnahmen der neuen Regierung stoßen auf Zustimmung. Nach dem Umsturz tauchten große Teile des Militärs und der Anhängerschaft des Regimes in der Zivilbevölkerung unter. Zudem begnadigte die Interimsregierung viele der ehemaligen Täter. Angesichts der ruinierten Infrastruktur wäre eine Unterbringung wohl ohnehin schwer umsetzbar.

Dennoch stößt die Entscheidung weder in der Bevölkerung, noch bei Alibrahim auf Verständnis. „Das Assad-Regime hat uns kollektiv gefoltert. Sie verwendeten den Terror, um an der Macht zu bleiben. Seine Täter gehören vor ein Gericht, aber sicherlich nicht auf die Straße.“ Die Katastrophen, die sie über Syrien brachten, sagt er, seien unmöglich zu beschreiben.

Die Sorge mag berechtigt sein. Jahre der Angst lassen sich nicht über Nacht vergessen. Doch auf dem langen Weg des Wiederaufbaus war das gewiss nicht der letzte Kompromiss, den die wiedergeborene Nation eingehen muss.

Der Ausbildungsplatz dieses Autors in der campus a Akademie für Journalismus ist ermöglicht mit freundlicher Unterstützung durch die ÖBB.
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