Unter Pseudonymen wie Minik Knudsen, Migmei Hsueh, Csizmazia Etel und Adelmar Borrego blieb der Schwede Johan Röhr lange Zeit ein Schatten der Musikwelt. Bis ihn die schwedische Zeitung Dagens Nyheter (DN) vergangenes Jahr bei einer Recherche enttarnte und als meistgestreamten Künstler Schwedens outete.
Auf Spotify schaffte er 2024 mit seinen 650 Profilen 15 Milliarden Streams und überholte damit ABBA, Elton John, Michael Jackson und Britney Spears. Mit mehr als 2700 veröffentlichten Liedern liegt Röhr vor Johnny Cash, der 500 Songs veröffentlichte und den Beatles, die 295 veröffentlichten.
Auf Interviewanfragen von Medien reagierte Röhr nicht. Der 48-jährige Musiker und Produzent will offensichtlich ein Phantom bleiben.
Seine Lieder bestehen nicht wie „Thriller“ oder „Dancing Queen“ aus starken Texten und mitreißenden Rhythmen, seine Songs sind sogenannte „mood pieces“. Instrumentale Stimmungsmusik mit meist melancholischen Klavierklängen, bei denen traditionelle Songstrukturen und Stimmbesetzungen meist fehlen. Das Genre zeichnet sich durch repetitive, fast meditative Klänge aus und ist als Entspannungsmusik in Flughäfen, Einkaufszentren und Hotels zu hören.
In der Branche bekannt ist das als Fahrstuhlmusik, doch auch als Alltagsuntermalung beim Kochen oder Arbeiten erfreut sich die „ambient music“ wachsender Beliebtheit. Peter Tschmuck, Musik- und Kulturwirtschaftsforscher am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sagt im Gespräch mit campus a: „Da das Musikstreaming vor allem bei der jüngeren Generation das Radio als Mittel zur Musikberieselung abgelöst hat, haben rein instrumentale Musikstücke massiv an Popularität gewonnen.“
Eine der meistgehörten, von Spotify selbst kuratierten Playlists heißt „Stress Relief“. 1,68 Millionen Follower entspannen sich dabei mit 203 Songs, etwa ein Fünftel davon stammt von Röhr. Seine Musik ist auf mehr als 140 Playlists für Instrumentalmusik vertreten, die zusammen mehr als 62 Millionen Follower haben.
Seine Songs sind meist Piano Coverversionen von bekannten Hits wie „Can you feel the Love tonight“, von Elton John, darunter aber auch manche Eigenkompositionen. Eine Pianoversion von „Twinkle, Twinkle Little Star”, die er unter dem Namen Adelmar Borrego veröffentlicht hat, verzeichnete mehr als 249 Millionen Streams.
Röhr ist am 20. September 1976 in Täby, einige Kilometer nördlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm geboren. Er besuchte als Kind die Musikschule und sang als Knabensolist für die Oper, ehe er sich seiner Leidenschaft für das Keyboardspielen widmete. Musik macht er bereits seit Anfang der 2000er Jahren, auch bei diversen Tourneen und Festivals hat er mitgearbeitet. Im Laufe seines Lebens verdiente er sein Geld mitunter auch als Dirigent, Songwriter und Produzent.
CEO Niklas Brantberg von Overtone Studios, dem Label, das die Musik von Röhr veröffentlicht: „Johan Röhr war der erste Künstler, mit dem AP Records (jetzt Overtone Studios) zusammengearbeitet hat. Er ist Pionier im Bereich der Stimmungsmusik“, zur schwedischen Zeitung DN.
Dass finanzieller Erfolg in der Musikszene auch ohne ausverkaufte Konzerttickets und Welttourneen möglich ist, zeigt Röhr eindrücklich. Auf Basis des Jahresberichts seines Privatunternehmens erzielte im Jahr 2022 Einnahmen von 32,7 Millionen schwedischen Kronen, was rund drei Millionen Euro entspricht. Zwischen 2020 und 2022 machte er einen Gewinn von geschätzten 70 Millionen Kronen, was rund 6,2 Millionen Euro entspricht. Spotify zahlt seinen Künstlern etwa 0,0033 Euro pro Stream, was auf einen Streaminggewinn bei Röhr von etwa 49 Millionen Euro spekulieren lässt.
Peter Tschmuck sagt: „Spotify & Co. profitieren von dieser Entwicklung, weil sie weniger hohe Lizenzzahlungen an diese Künstler beziehungsweise die dahinter stehenden Rechteverwerter zahlen müssen. Und die Künstler erhalten dadurch einen nicht zu unterschätzenden Teil des Streamingkuchens. Aus deren Sicht also eine Win-Win-Situation.”
Viele von Röhrs Tracks sind darauf ausgerichtet, die Algorithmen von Streaming-Plattformen zu bedienen und dadurch hohe Reichweiten zu erzielen. Peter Tschmuck meint: „Die Algorithmen bevorzugen ähnlich gelagerte Musikstücke. So entsteht ein sich selbst verstärkender Prozess der Klangüberflutung.“
Die Homogenisierung von Musik ist schädlich für traditionelle Musik, da viele Komponisten wie Röhr fast idente Instrumentalsongs produzieren und somit den Markt mit Massenware, die keine künstlerischen Alleinstellungsmerkmale mehr hat, überfluten. Laut Studien lässt sich das Phänomen der „ambient music“ auch als eine verständliche Reaktion auf die hektische, reizüberflutete Welt, die bei vielen das Bedürfnis nach Ruhe und entspannender Musik weckt, verstehen.
Pionier der „ambient music“ war der Brite Brian Eno, der in den 1970er Jahren für Künstler wie David Bowie produziert hat. Auf Alben wie „Music for Airports“, „Here comes the warm Jets” oder “Another Green World” komponierte er ebenfalls instrumentale „mood pieces“, die allerdings noch komplexer aufgebaut waren als die Werke von Johan Röhr.
Eine Pressesprecherin von Spotify sagte zur britischen Tageszeitung The Guardian: „Es gibt ein zunehmendes Interesse an funktionaler Musik, die dazu dient, alltägliche Aktivitäten wie Entspannung, Konzentration oder Lernen zu unterstützen. Dieser Musikstil ist typischerweise im Focus-Hub von Spotify zu finden, was den Wettbewerb mit Künstlern aus traditionellen Genres der Popmusik einschränkt.“
Dass Playlist immer beliebter werden, spielt Röhr wohl zusätzlich in die Hände. Viele Nutzer hören längst keine einzelnen Alben oder Songs mehr, sondern bevorzugen kuratierte Playlists, die sich flexibel an ihre aktuelle Stimmung anpassen lassen. Tschmuck sagt: „Instrumentalmusik dient als Klangtapete bei alltäglichen Verrichtungen, beim Workout, Joggen oder beim Einschlafen. Für jedes Lebenssituation gibt es die passenden Playlists und die sind mit einfacher Musikkost gefüllt.“
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