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Das 500-Menschen-Dilemma auf Netflix: Wo endet der Friede?

Die Probleme zwischen den Menschen fingen erst an, als sie in Gruppen mit mehr als 500 Menschen zusammenlebten, philosophiert Harrison Ford in seiner Rolle als Jacob Dutton in der Netflix-Serie 1923. Davor haben sich alle alles untereinander ausgemacht, waren etwa auf Augenhöhe und niemand hat niemanden ausgebeutet. All dieser Zoff mit der Menschheit fing erst mit größeren Gruppen an, mit Städten und Staaten. Stimmt das?
Kiki Camilla Manig  •  29. Juli 2025 Redakteurin    Sterne  226
Die Hauptdarsteller Harrison Ford als Jacob Dutton und Helen Mirren als Cara Dutton bei der Premiere der Serie „1923“. (Foto: Shutterstock)
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Die Netflix-Serie 1923 zeigt das raue Leben im amerikanischen Westen und spiegelt in staubigen Bildsprache und melancholischen Erzählweise den Zerfall eines alten Ordnungsgefüges an der Schwelle zum modernen Amerika wider. In der Serie philosophiert der Schauspieler Harrison Ford als Jacob Dutton trübsinnig vor sich hin und erklärt dabei seiner Frau und Familie folgende These:

Solange die Menschen noch in kleinen Gruppen lebten, gab es viel weniger Ungerechtigkeit. Es gab keine Starken, die Schwache ausgebeutet haben und auf deren Kosten Geld verdienten. Alle hatten in etwa die gleichen Rechte und haben die Dinge fair untereinander geregelt. Sind Probleme aufgetaucht, haben sie sich diese untereinander ausgemacht und dafür gesorgt, dass niemand zu kurz kommt. Wie in einer großen Familie. Eine träumerische Vorstellung, aber nicht die Realität. 

Der Ursprung der These

Der Gedanke geht zurück auf den Schweizer Philosophen Jean‑Jacques Rousseau aus dem 18. Jahrhundert. Rousseau argumentierte, Menschen würden nur in kleinen, naturnahen Gemeinschaften ihr ursprüngliches zwischenmenschliches Gleichgewicht erhalten können und dass größere, komplexere Gesellschaften hingegen Ungleichheit erzeugen. Laut Dutton alias Harrison Ford liegt die Grenze zwischen Einvernehmlichkeit und Ungemach bei 500 Menschen.

Ist 500 die Grenze?

In der Theorie lässt sich diese Hypothese mit etwas in Verbindung bringen, das als Dunbars Zahl bekannt ist. Der Anthropologe Robin Dunbar behauptete, Menschen könnten 150 stabile Beziehungen aufrechterhalten, 500 Bekanntschaften haben und 1.500 Gesichter wiedererkennen. Dunbar leitete diese kognitiven Grenzen aus dem Verhältnis von Gehirngröße (insbesondere der grauen Hirnsubstanz) zu Gruppengröße bei Primaten ab. Er stellte dabei fest, dass größere Gehirne mit größeren Sozialgruppen einhergehen und übertrug das auf den Menschen. 

Hermann Mückler, Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, sagt gegenüber campus a: „Tendenziell stimmt, was Jacob Dutton sagt, aber die Zahl 500 ist zu hoch gegriffen.“ Tatsächlich liege sie eher bei 150 bis 180 Personen.

Gleichberechtigung zwischen 1923 und 2023

Eine Studie aus dem Jahr, in dem die Serie spielt, unterstreicht allerdings die Aussage Jacob Duttons. Der britische Sozialanthropologe A. R. Radcliffe-Brown beschrieb in seinem Werk The Methods of Ethnology and Social Anthropology, wie seiner Ansicht nach die Menschen in ebensolchen kleinen Gemeinschaft unverzichtbare Funktionen füreinander erfüllen. Die Mitglieder verpflichten sich demnach, aufeinander angeweisen, zu sozial nützlichen Aktivitäten. 

2023 zeigten die britischen Forscher in einer Studie, wie sich politische Strukturen mit wachsender Gruppengröße verändern. In ihrem Modell Playing the political game: the coevolution of institutions with group size and political inequality weisen sie nach: je größer eine Gemeinschaft wird, desto aufwendiger wird kollektive Entscheidungsfindung. Ab einer bestimmten Gruppengröße, oft schon ab wenigen hundert Menschen, wird die gleichberechtigte Abstimmung ineffizient.

Hierarchien setzen sich in der Folge durch. Sie entstehen nicht zwingend durch Unterdrückung, sondern als funktionale Antwort auf strukturelle Komplexität. Diese Erkenntnis bestätigt Jacob Duttons These, lässt sich jedoch nicht auf alle Gruppen und Gesellschaften beziehen.

Die Ausnahmen

Der Kultur- und Sozialanthropologe Andre Gingrich sagt zu campus a: „Sieht man von bekannten Ausnahmen wie den sogenannten ,Eskimo‘ oder auch Teilen der australischen Aborigines ab, so stimmt es im Großen und Ganzen, dass kleinere Verbände von Jagd- und Sammelwirtschaft oder einfachen Bodenbau betreibenden Kulturen oft etwas ausgewogenere und weniger hierarchische Formen der Gesellschaftsorganisation hatten beziehungsweise haben.“

Dies läge unter anderem an den Menschen, die in solchen Kontexten stärker aufeinander angewiesen sind. Uneigennützigkeit und Rücksichtnahme auf andere seien ein notwendiger Bestandteil des Überlebens. Unter ökologisch oder technologisch günstigeren Bedingungen entwickeln sich dann arbeitsteiligere Gesellschaften mit Vorratshaltung und Überschussproduktion. Dabei käme es mitunter dazu, dass kleine Eliten, etwa in Form von Priestern oder Administratoren, unter dem Vorwand öffentlicher Dienste einen Teil dieser Überschüsse für sich beanspruchen. 

In Hinblick auf das Hier und Jetzt, wo die Menschen um den Marktzugang konkurrieren oder etwa um EU-Förderungen, will jeder für sich den größten Vorteil herausholen. Heute dominiert oft der Konkurrenzgedanke. Früher, in schwierigen Lebensverhältnissen, waren Zusammenarbeit und -halt wichtiger.

„Alpha-Tiere gibt es aber auch in Kleingruppen von 150 bis 180 Menschen“, sagt Mückler weiter. Daraus lässt sich schließen, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht zwangsläufig mit zunehmender Hierarchie oder Unterordnung einhergehen muss.


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