Es ist die Nacht auf den zwanzigsten August, als sich die 17-Jährige nach einem Abend mit Freunden auf den Rückweg von Amsterdam nach Abcoude macht. Um 3.30 Uhr geht ihr Notruf bei der Amsterdamer Polizei ein: Ein Mann verfolge und belästige sie. Als die Beamten 45 Minuten später eintreffen, ist es zu spät. Die Polizei findet die Leiche des Mädchens mit Schnittwunden am Hals am Straßenrand. An diesem Abend hat die Schülerin alles richtig gemacht: Sie war mit einem Elektrorad (Höchstgeschwindigkeit 25 Stundenkilometer) unterwegs, fuhr neben einer stark befahrenen Straße und setzte einen Notruf ab. Trotzdem kam jeder Hilfe zu spät.
Laut eigenen Angaben nahm die Polizei den Tatverdächtigen am 21. August wegen Vergewaltigung und eines versuchten sexuellen Übergriffs an zwei weiteren Frauen fest. Erst später brachten ihn die Beamten mit dem dritten Fall vom zwanzigsten August in Verbindung.
Bereits im Sommer teilte das niederländische Statistikamt CBS mit: Jährlich gibt es vierzig bis fünfzig Femizide. Durchschnittlich alle acht Tage einen. Ein Schock für die vermeintlich emanzipierte Niederlande.
Der Tod der 17-Jährigen hat eine breite öffentliche Debatte ausgelöst. Die Niederländer protestieren: Zahlreiche Opfer sprechen über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt durch Männer, Städte und Gemeinden tauchen Gebäude solidarisch in oranges Licht. Slogans wie „Wir fordern die Nacht zurück“ und „Recht auf Nacht“ sind überall zu finden. Mit einer Spendenaktion sammelte die Initiative Wu eisen de Nacht op („Wo bleibt die Nacht?“) mehr als 500.000 Euro.
Auch Amsterdams Bürgermeisterin Femke Halsema äußerte sich zu dem Gewaltproblem: „Das ist die größte Angst jeder Frau und jedes Elternteils. Tausende Frauen fordern zu Recht die Nacht zurück. Zur Schule zu radeln, auszugehen und das Leben sowie die Freiheit ohne Angst genießen zu können, das sollte selbstverständlich sein.“ Gewalt gegen Frauen sei eine „Schande für die Niederlande.“ Sie verspricht konkrete Schutzmaßnahmen.
Wie diese Schritte aussehen sollen, kann sie allerdings noch nicht sagen. Sie verweist auf die Gemeinde Ouder-Amstel, die nach dem Mord an der 17-Jährigen Überwachungskameras installiert, die Straßenbeleuchtung anpasst und prüft, ob das Grün in der Umgebung geschnitten werden muss. Handlungen, die längst überfällig waren: Laut den niederländischen Medien Pointer und AD meldeten Bürger den Radweg nach Abcoude in den vergangenen zweieinhalb Jahren über hundert Mal wegen Sicherheitsmängeln.
Die Politik reagiert. Trotzdem fühlen sich viele Frauen nicht genug ernst genommen. „Straßenbeleuchtung ist ein Anfang, aber im Ernstfall bringt das nichts. Wir brauchen härtere Strafen zur Abschreckung“, so eine 21-jährige Jurastudentin aus Amsterdam, die anonym bleiben möchte. Auch sie hat in der Vergangenheit mitbekommen, wie mehrere Frauen aus ihrem Umfeld Opfer von Gewalt durch Männer wurden. Ihrer Meinung nach kommen Täter nach einer Verurteilung zu schnell wieder auf freien Fuß.
Neben härteren Strafen fordert die junge Frau sogenannte AMBER-Alerts bei akuter Gefahr. AMBER-Alerts sind ein Warnsystem, das sich aktiviert, wenn Eltern ihr Kind als vermisst melden und die Polizei von akuter Gefahr für Leib und Leben ausgeht. Bei einem Alarm verbreiten die Behörden die wichtigsten Informationen über digitale Werbetafeln, Nachrichtenportale und soziale Medien. In der EU findet das Prinzip unter anderem in Griechenland, Tschechien und Frankreich Anwendung. Österreich ist bisher kein Teil des AMBER-Alert-Systems.
In den Niederlanden kursiert nun auf Social Media die Idee, ähnliche Alarme bei Gewaltdelikten gegen Frauen einzuführen. Kommt es innerhalb kurzer Zeit in einem bestimmten Umkreis zu mehreren Straftaten an Frauen, soll die Polizei darauf aufmerksam machen. „So könnte man Situationen vermeiden, in denen erst drei Straftaten begangen werden, bevor der Täter gefasst wird“, erklärt die Studentin.
Neben den halbherzigen Reaktionen der Politik kritisieren viele junge Frauen das niederländische Strafrecht. Es verbietet „Selbstverteidigungswaffen“ wie Pfeffersprays oder Elektroschocker. Wer dennoch welche dabei hat, muss mit Strafen rechnen. Bußgeldern von bis zu 9.000 Euro oder einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Zumindest bislang. Nach dem Tod der 17-jährigen Schülerin will das niederländische Kabinett die Legalisierung von Mittel zur Selbstverteidigung noch einmal prüfen.
„Viele Niederländer kaufen solche Produkte in Deutschland, weil einige Waren dort legal sind“, so die Studentin. Die rechtliche Einordnung und damit auch die Zulassung sind in jedem EU-Mitgliedsstaat verschieden. Während in Deutschland nur „tierische Sprays“ mit Prüfzeichen zur Selbstverteidigung erlaubt sind, gilt Pfefferspray in Polen rechtlich nicht als Waffe. In Österreich ist der Einsatz von Sprays oder Elektroschocker ab 18 Jahren erlaubt. Strafbar macht sich laut Gesetz, wer „das gerechtfertigte Maß der Verteidigung überschreitet.“
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