Finnland gilt als sportliches Vorbild. In dem vom UN-World-Happiness-Report zum achten Mal in Folge gewählten glücklichsten Land der Welt nimmt fast jede Grundschule am Programm „Schools on the Move“ teil. Mehr als 90 Prozent der unter 18-Jährigen sind regelmäßig körperlich aktiv, sei es im Sportverein oder in informellen Gruppen. Sportvereine sind dort Teil des Alltags, kein Luxus. Engagierte Freiwillige tragen mehr als 9000 Vereine und sowohl Jugendliche als auch Erwachsene beteiligen sich in großer Zahl. Bewegung ist in Finnland nicht etwas, das „on top“ kommt, sondern tief im Alltag verankert ist.
Österreichs Sportvereine hingegen weisen kaum Interesse von Kindern und Jugendlichen auf. Laut Statista Österreich waren es im Jahr 2020 knapp 280.000 Sportbegeisterte, die in Vereinen gemeldet waren. Seitdem sind die Zahlen stark gesunken, verstärkt durch die Corona Pandemie.
Am 2. Oktober trafen sich Sport-Staatssekretärin Michaela Schmidt und der finnische Sportminister Mika Poutala in Wien zu einem Gespräch mit Signalwirkung. Thema war die Förderung von Bewegung bei Kindern und Jugendlichen und die Frage, ob Österreich von Finnlands Modell lernen kann. Denn während Bewegung in Finnland selbstverständlich ist, gilt sie in Österreich für viele immer noch als Zusatz, nicht als Grundbedürfnis. Expertise zum Thema gibt der Wiener Sport- und Ernährungsmediziner Robert Fritz, der sich seit Jahren mit Bewegungsmangel und seinen gesundheitlichen Folgen beschäftigt.
In Finnland ist die Auswahl an Sportarten riesig. Das Land spiegelt die enge Verbindung zu Natur, Jahreszeiten und Gemeinschaft wider. Besonders beliebt sind Fußball, Gymnastik, Turnen, Eishockey und Unihockey. Outdoor-Aktivitäten haben einen hohen Stellenwert: Wandern, Langlauf, Nordic Walking, Radfahren, Kanufahren und das Erkunden von Wäldern und Seen gehören fest zum Alltag. Erwachsene bevorzugen flexible Sportarten wie Jogging oder Gruppenkurse, während Jugendliche sich eher für Mannschaftssport oder Abenteuer im Freien begeistern.
Ein Merkmal der finnischen Bewegungskultur ist das „Everyman’s Right“, das sogenannte Jedermannsrecht. Es erlaubt allen Menschen, sich frei in der Natur zu bewegen, unabhängig davon, wem das Land gehört. Wandern, Zelten oder Baden ist überall möglich, solange jeder die Natur respektiert. Diese Freiheit senkt die Schwelle zur Bewegung enorm und fördert besonders bei Kindern eine spielerische Beziehung zu körperlicher Aktivität. Ein Konzept, das in Österreich weitgehend fehlt.
Ein Beispiel für Finnlands gelebte Bewegungskultur ist „Naisten Kymppi“, was übersetzt „Frauen 10“ bedeutet. Seit 1984 treffen sich in Helsinki jedes Jahr Frauen jeden Alters und Fitnessniveaus, um gemeinsam rund zehn Kilometer zu laufen, zu gehen oder an einer kürzeren Variante teilzunehmen. Der Lauf ist kein Wettkampf, sondern ein Fest der Bewegung, des Wohlbefindens und der Gemeinschaft. Musik, Entspannung und Zusammenhalt stehen im Vordergrund. Ein Symbol dafür, wie niedrigschwellig Bewegung in Finnland gedacht wird.
In Finnland sind rund 60 Prozent der 9- bis 15-Jährigen regelmäßig in Sportvereinen aktiv. Viele beginnen schon im Vorschulalter. Laut Sportminister Poutala sollen Kinder früh lernen, dass Bewegung Freude und Privileg bedeutet, nicht Pflicht.
In Österreich hingegen ist die Situation ernüchternd. Laut Statista Austria waren 2017 etwa 2,1 Millionen Menschen Mitglied in einem Sportverein, rund ein Viertel der Bevölkerung. Seit der COVID-19-Pandemie ist die Zahl deutlich gesunken. Besonders stark betroffen sind Kinder zwischen drei und acht Jahren, deren Vereinsbeteiligung um mehr als die Hälfte zurückging.
Robert Fritz sieht darin ein strukturelles Defizit: „Wir haben den Schulsport, den Vereinssport und den Freizeitsport. Aber all das ist nicht vernünftig verknüpft.“ Fehlende Kooperationen, Haftungsfragen und zu wenige qualifizierte Lehrkräfte verhinderten eine nachhaltige Bewegungserziehung. „Wenn du in der Kindheit keinen Zugang zu Bewegung findest, hast du später nur noch wenige Chancen, in ein aktives Leben hineinzukommen.“ Sport sei keine Nebensache, sondern ein Grundpfeiler von Gesundheit und Lebensqualität.
Programme wie „Willkommen im Club“, die sozial benachteiligten Kindern den Eintritt in Vereine erleichtern, sind ein wichtiger Schritt. Doch laut Fritz müssten Schule, Eltern und Vereine viel stärker zusammenarbeiten. „Im Moment schiebt jeder die Verantwortung auf den anderen. Dabei sind alle gefragt. Kinder lernen vor allem durch Vorbilder.“
Während Finnland seit Jahrzehnten in Prävention investiert, arbeitet Österreich vor allem an der Reparatur des Schadens. Eine finnische Studie bezifferte die volkswirtschaftlichen Kosten durch Bewegungsmangel 2017 auf rund 3,2 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Doch im Gegensatz zu Österreich fließen dort erhebliche Mittel in Präventionsprogramme, die genau diese Kosten langfristig vermeiden sollen.
Auch in Österreich verursachen inaktive Lebensstile hohe Folgekosten. Nach Daten der Österreichischen Nationalbank sind die Gesundheitsausgaben für über 85-Jährige etwa fünfmal so hoch wie für 35- bis 39-Jährige. Ein erheblicher Anteil entfällt auf Krankheiten, die durch Bewegung vermeidbar wären: Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
„Wenn wir uns nicht bewegen, gehen sowohl Körper als auch Geist kaputt“, warnt Fritz. „Das ist eigentlich eine Form von Körperhygiene. Genauso selbstverständlich wie Zähneputzen oder Duschen.“ Bewegung sei das wirksamste und zugleich billigste Medikament der Welt. Eines, das jeder sich selbst verschreiben könne.
Während körperliche Folgen von Bewegungsmangel sichtbar sind, bleiben die psychischen oft verborgen. Doch laut Fritz ist der Zusammenhang eindeutig. „Wir wissen heute, dass Bewegung gegen depressive Verstimmungen wirkt. Das ist wissenschaftlich bewiesen.“ Studien belegen, dass regelmäßige Bewegung das Risiko für Depressionen, Demenz und Alzheimer deutlich senken kann, ebenso wie für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
„Ich sehe kaum unglückliche Menschen, die sich regelmäßig bewegen“, sagt Fritz. „Bewegung verändert die Ausstrahlung, das Energielevel, die Lebensqualität. Sie reduziert Stress, stärkt soziale Bindungen und hilft, Sinn und Struktur im Alltag zu finden.“ Gerade nach der Pandemie, so der Sportmediziner, sei das besonders wichtig. Viele Jugendliche hätten durch Lockdowns und Vereinsstillstand nicht nur körperlich, sondern auch sozial den Anschluss verloren. „Bewegung kann helfen, das wieder aufzubauen. Sie schafft Gemeinschaft, wo Isolation war.“
Im Vergleich zu Finnland ist Österreichs Gesundheitssystem stark auf Heilung statt auf Vorsorge ausgerichtet. In Finnland arbeiten Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen eng zusammen. Schulen kooperieren mit Vereinen, Gesundheitsämtern und Gemeinden. Bewegung wird dort als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. In Österreich hingegen liegt Prävention in einer Grauzone zwischen Bundes- und Landeskompetenzen.
„In Österreich ist niemand wirklich zuständig“, sagt Fritz. „Das Spitalswesen wird aus einem anderen Topf finanziert als der niedergelassene Bereich. Da wird nur hin- und hergeschoben. Es wäre höchste Zeit, Prävention endlich als gemeinsames Ziel zu begreifen.“ Er plädiert für ein System, das Bewegung belohnt, etwa durch Bonusmodelle für Menschen, die aktiv sind, sich vernünftig ernähren und auf ihre Gesundheit achten.
Finnland zeigt, dass solche Investitionen wirken: Dort wird Prävention als gesellschaftlicher Gewinn betrachtet, nicht als Kostenfaktor. Das Ergebnis sind niedrigere Gesundheitsausgaben sowie eine Bevölkerung, die länger gesund lebt. Körperlich und mental.
Bewegung wirkt sich neben der Gesundheit auch auf die schulische Leistung aus. Finnland zählt bei den PISA-Ergebnissen regelmäßig zur Spitzengruppe in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Kinder, die sich regelmäßig bewegen, zeigen bessere Aufmerksamkeit, mehr Ausdauer und weniger Fehlzeiten. Bewegungspausen und flexible Lernumgebungen sind dort selbstverständlich. Ein Konzept, von dem Österreich erheblich profitieren könnte.
Das Treffen zwischen Schmidt und Poutala war mehr als ein symbolischer Austausch. Es bietet Österreich die Chance, Bewegungskultur langfristig zu verankern, in Schulen, Vereinen und Familien. Wenn Kinder früh positive Bewegungserfahrungen machen, Eltern als Vorbilder wirken und Bewegung als selbstverständlich gilt, könnte sich das Land in wenigen Generationen ähnlich entwickeln wie Finnland.
„Bewegung muss wieder selbstverständlich werden“, sagt Fritz. „Nicht, weil sie Leistung bringt, sondern weil sie Leben verbessert.“ Finnland zeigt, dass Bewegung keine Pflichtübung ist, sondern ein Fundament für ein glückliches Leben. Österreich hat die Chance, daraus zu lernen und den Wandel jetzt zu beginnen.
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