Am 18. November steigt das Fußballspiel Österreich gegen Bosnien, möglicherweise ein Entscheidungsspiel für die Weltmeisterschaft. Die Tickets waren im Vorfeld nur als Paket mit anderen Österreich-Spielen zu haben, um zu verhindern, dass bosnische Fans die Österreicher aus dem Stadion singen.
In der Vergangenheit, etwa bei Begegnungen mit Serbien oder Kroatien in Wien oder Linz, ist dies passiert. Wieso ist die nationale Identität vor allem in der Balkan-Diaspora so tief verankert?
Der Balkan ist geprägt von einer Geschichte, die bis heute nachwirkt. In den 1950er- und 1960er-Jahren kamen die ersten Gastarbeiter nach Österreich. Viele blieben, gründeten Familien und brachten ihre Kultur mit. Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren folgte eine neue Welle der Zuwanderung. Menschen, die einst Nachbarn waren, standen sich plötzlich als Feinde gegenüber. In den Konflikten entstanden Spannungen zwischen den Staaten, die mit nach Österreich gelangten.
Trotzdem scheint die nationale Identität in diesen Gemeinschaften stärker ausgeprägt zu sein als bei anderen. „Die Nationen entstanden durch Abgrenzung zu anderen, da staatliche Strukturen instabil waren. Für die Diaspora wirkt die Identität als Symbol von Zugehörigkeit und als Erinnerungsgemeinschaft“, sagt die Soziologieprofessorin Ana Mijic.
Gerade am Balkan spielt die Diaspora eine besondere Rolle. Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, halten oft umso stärker an ihr fest. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson nennt das „Fernnationalismus“, also Nationalstolz von einem anderen Land aus. Wer nicht mehr im Herkunftsland lebt, erlebt die Nation nicht im Alltag, sondern vor allem in Erinnerungen, Symbolen und Erzählungen. Sprache, Religion und kulturelle Bräuche werden dadurch zu wichtigen Zeichen der Zugehörigkeit, oft sogar stärker ausgelebt als im Land selbst.
„Ein Beispiel ist die bosnische Diaspora in Westeuropa oder Nordamerika“, erklärt Mijic. „Viele Gemeinden haben nach dem Krieg der 1990er-Jahre eine Art „Diaspora-Nationalismus“ entwickelt. Sie engagieren sich stark in Herkunftspolitik, unterstützen bestimmte Parteien oder pflegen Erinnerungspraktiken, die stärker auf die Vergangenheit ausgerichtet sind als auf Kompromisse im Alltag vor Ort.“
All das zeigt sich auch im Fußball. Als Österreich zuletzt in Wien auf eine Balkanmannschaft traf, Serbien, musste der serbische Fußballverband seine Fans im Vorfeld öffentlich zur Zurückhaltung aufrufen. „Wir appellieren an alle Fans, alles zu unterlassen, was als nationalistisch, beleidigend oder unhöflich aufgefasst werden könnte“, hieß es damals.
Trotzdem war das Stadion im österreichischen Familiensektor dicht gefüllt mit serbischen Trikots. Die Rufe „Kosovo je Srbija“ (Kosovo ist Serbien) hallten durch die Ränge. Kosovo erklärte 2008 seine Unabhängigkeit.Serbien betrachtet Kosovo bis heute als Teil seines Staatsgebiets.
„Sport fungiert als Projektionsfläche für kollektive Emotionen und nationalen Stolz“, erklärt Mijic. „In Gesellschaften, in denen nationale Identität stark umkämpft ist, wird der einzelne Spieler schnell zum Symbol für Zugehörigkeit oder Verrat.“
Das bestätigen auch Stimmen in den Kommentarspalten sozialer Medien. „Ich lebe seit Jahren in Österreich, und ehrlich… Bosnien/Serbien war immer Teil meiner Identität, mehr als das Land, in dem ich arbeite“, schreibt ein Reddit-User. Auf Instagram zeigen Fan-Accounts Fotos von einem serbischen Fantreffen in Wiener Lokalen. „Wir sind alle Diaspora, aber das Herz ist dort“, schreibt der Account.
„Sport spiegelt bestehende Konflikte wider, ist aber zugleich ein Katalysator, da er Emotionen verdichtet und massenwirksam symbolisch auflädt“, sagt Mijic.
Österreich ist kein leichtes Land, um anzukommen. Für Nationalitäten mit großer Gemeinschaft in Österreich ist es schwer, sich von der eigenen Parallelgesellschaft zu lösen. Für viele Menschen spielt sich der Alltag ausschließlich unter Personen mit derselben Herkunft und Sprache ab. Wer außerhalb von Schule und Arbeit kaum Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft hat, dem fällt es schwer, sich mit Österreich wirklich zu identifizieren.
Österreich verstand Integration lange als Einbahnstraße, besonders bei der ersten Welle der Gastarbeiter. Viele fanden Halt im Vertrauen in die eigene Kultur.
Nicht jedes kulturelle Angebot führt zu einer Parallelgesellschaft. Ein Verein, der traditionelle Tänze pflegt, ist kein Problem. Kritisch wird es, wenn ganze Straßenzüge entstehen, in denen kaum noch Deutsch gesprochen wird und der Kontakt zur übrigen Gesellschaft fehlt.
Mijic betont aber auch, dass nicht alle in der Diaspora ihre Identität gleich leben. Es geht nicht darum, sich ganz für das eine oder das andere zu entscheiden. Beides ist gleichzeitig möglich. „Während manche Gruppen nationalistische Diskurse verschärfen, entwickeln andere, insbesondere die zweite und dritte Generation, Identitäten, die Herkunft und lokale Zugehörigkeit verbinden. Solche transnationalen Lebenswelten können auch als Ressource dienen, weil sie neue, weniger starre Vorstellungen von Identität eröffnen.“
Bis Austro-Bosnier im Happel-Stadion mit Österreich mitfiebert, wird die Integrationspolitik aber noch einiges leisten müssen.
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