Wien | Gesundheit | Meinung | Chronik | Kultur | Lifestyle | Wirtschaft | Politik | Panorama
Innenpolitik Österreich Fakten

Jugend und Justiz – Ein Drahtseilakt im Kriminalrecht

Warum eine Senkung der Strafmündigkeit nicht ausreicht. Nachgefragt bei Martin Ulrich, dem Vorsitzenden der Bundesvertretung Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst.
Marlene Ramusch  •  10. Januar 2025 Schülerin*in      34
Martin Ulrich: "Jugendliche Straftäter fallen nicht vom Himmel."
Foto: privat

Wien am 26. Dezember 2024: „Teenie-Bande verursacht fast eine halbe Million Euro Schaden.” So lautet die Schlagzeile in der Tageszeitung „Der Standard“. Die „Teenie-Bande“, das sind Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, denen 1.200 Straftaten zur Last gelegt werden. Und das ist kein Einzelfall. Doch die Mitglieder der Gruppe, die noch nicht 14 Jahre alt sind, erwarten keine Anzeige und kein Gerichtsurteil. Sie sind strafunmündig.

Die Statistiken des Bundesministeriums für Inneres sind schockierend. Während 2013 noch etwa 4.800 Kinder zwischen 10 und 14 Jahren wegen Straftaten zur Anzeige gebracht wurden, ist diese Zahl 2022 auf mehr als 9.500 gestiegen. Immer wieder erschüttern Berichte über schwere Straftaten von Kindern und Jugendlichen die Öffentlichkeit. Schnell flammt dann die Diskussion auf, ob die Strafmündigkeit herabgesetzt werden sollte, um härter gegen junge Täter vorzugehen. Doch kann eine niedrigere Altersgrenze die richtige Antwort auf steigende Jugendkriminalität sein?

Senkung der Strafmündigkeit greift zu kurz

Martin Ulrich ist Vorsitzender der Bundesvertretung Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD). Er warnt davor, sich in der Diskussion nur von Einzelfällen leiten zu lassen. Demnach greife allein die bloße Senkung der Strafmündigkeit zu kurz, um das Problem zu lösen. Ulrich plädiert dafür, den Fokus insbesondere auf präventive Maßnahmen zu legen, die dort ansetzen, wo die Entwicklung zur Kriminalität oft beginnt: im sozialen und familiären Umfeld.

Jugendliche Straftäter „fallen nicht vom Himmel“, so Ulrich. Häufig handle es sich um junge Menschen aus schwierigen Verhältnissen, denen es an stabilen Strukturen und Perspektiven mangelt. Prävention müsse deshalb weit vor den ersten Straftaten ansetzen.

Eine Frage der Reife

Ein weiterer Aspekt, der in der Debatte oft zu kurz kommt, ist die medizinische Perspektive. Die Frage, ob Jugendliche heute tatsächlich früher in der Lage sind, das Unrecht ihrer Taten zu erkennen und entsprechend zu handeln, ist laut Dr. Ulrich zentral. „Man muss die Adoleszenzkrise berücksichtigen und sich fragen, ob Jugendliche aus medizinischer Sicht reifer geworden sind“, erklärt er. Ohne eine fundierte psychologische und medizinische Grundlage könne eine Senkung der Strafmündigkeit schnell zu einem „legistischen Schnellschluss“ werden.

Das Strafrecht sollte immer das letzte Mittel bleiben, betont der Generalanwalt. Es könne lediglich reagieren, wenn eine Straftat bereits begangen wurde, jedoch nicht deren Ursachen bekämpfen. Erzieherische und jugendfürsorgliche Maßnahmen seien hier viel effektiver. „Das Schwergewicht liegt im erzieherischen Bereich. Jugendliche brauchen stabile soziale Verhältnisse, eine gute Schulbildung und berufliche Perspektiven.“ 

Kein Ersatz für Prävention

Eine Senkung der Strafmündigkeit könne Teil eines umfassenden Maßnahmenbündels sein, dürfe aber keinesfalls andere, präventive Ansätze verdrängen. „Wenn man allein eine Senkung der Strafmündigkeit als Ersatz für jugendfürsorgliche Maßnahmen einsetzt, wäre das sicher der falsche Weg“, so Dr. Ulrich. Bei den strafunmündigen Mitgliedern der „Teenie Bande“ etwa wird die Kinder- und Jugendhilfe informiert, die dem Bundeskanzleramt zufolge Kinder in „ihrer Entwicklung und Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten“ unterstützt.

Die Debatte um die Strafmündigkeit lenkt den Blick auf die Notwendigkeit, gesellschaftliche Strukturen zu stärken und präventiv gegen Jugendkriminalität vorzugehen. Statt allein auf härtere Strafen zu setzen, sollten andere Maßnahmen Vorrang haben: Investitionen in Bildung, soziale Unterstützung und weitere Schritte, die sicherstellen, dass alle Jugendlichen in einem stabilen sozialen Umfeld aufwachsen können. 

1 Kommentar
Bernadette Krassay

Ein toller Artikel mit perfekt ausgewählter Interviewperson. Ich würde mich freuen, mehr von dir zu lesen!

22 January 2025



Kommentar
0/1000 Zeichen
Advertisement