
Lange Zeit folgten Geschichten einer klaren moralischen Dualität: Der Held siegt, das Böse wird bestraft. In allen klassischen Kindermärchen gab es keine Grauzonen. Filme wie „Schneewittchen“ oder „Der Froschkönig“ vermittelten unmissverständlich, wie das Böse verliert, während der Protagonist alle Hürden überwindet und wahre Liebe findet. Viele spulten einfach vor, wenn ein unliebsamer Bösewicht auf dem Bildschirm erschien. Ursula aus „Arielle“? Weggeklickt. Doch irgendwann stellten Geschichten ihre Zuschauer vor eine unbequeme Frage: Wer ist hier eigentlich der Böse?
Maleficent, die neu interpretierte böse Fee aus Dornröschen, erscheint nicht mehr als reine Antagonistin, sondern als Figur mit tragischer Vergangenheit. Ihre Verfluchung von Dornröschen relativiert sich durch moralische Grauzonen und wird mit nachvollziehbaren Motiven unterfüttert. Märchen lehrten uns, dass der Frosch mit einem Kuss zum Prinzen wird und nicht zum charismatischen Antihelden avanciert, der seine dunklen Taten mit einem Lächeln entschuldigt.
Märchen und Geschichten prägten vor allem in der Kindheit den moralischen Kompass, doch mit der Zeit veränderte sich ihre Struktur. Plötzlich war die gewisse bösartige Ader nicht mehr abschreckend, sondern faszinierend. Wenn sich einst unverrückbare moralische Maßstäbe auflösen und eine Umkehr der Werte Einzug hält, stellt sich die brennende Frage: Wie soll ein Erwachsener in dieser Grauzone noch zwischen Gut und Böse unterscheiden?
Verfasse auch du einen Beitrag auf campus a.
Zwar ist die Welt nicht schwarz und weiß, doch die beinahe selbstverständliche Akzeptanz von Persönlichkeiten, die zweifelsfrei verwerflich sind, hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Ein Echo jener Ablehnung, die Kinder instinktiv spürten, wenn sie den unheilvollen Protagonisten auf der Bildfläche entdeckten.
Nicht nur Disney erkannte schnell, dass makellose Prinzen langweilen. Filme und Serien setzen vermehrt auf ambivalente Charaktere, in denen eine Prise des Bösen ein nicht mehr wegzudenkendes Attribut ist. Das zeigt sich besonders in der Welt der Erwachsenenunterhaltung. Netflix und Co. liefern wahre Geschichten über Kriminelle, die nicht mehr nur als abschreckende Beispiele dienen, sondern stilisierte Helden sind.
Die Netflix Miniserie über die Menendez-Brüder ist ein Paradebeispiel. Zwei junge Männer, die ihre Eltern brutal mit einer Schrotflinte ermordeten, erscheinen als traumatisierte Opfer. Die visuelle Atmosphäre der Serie verwandelt sie in perfekt inszenierte Hollywood-Stars. Luxuriöse Autos, teure Partys und Charme ohne Ende. Die Serie feierte großen Erfolg und Nutzer sozialer Medien vergötterten ihre Schauspieler regelrecht.
Auch die Netflix-Neuverfilmung der Verbrechen von Jeffrey Dahmer folgte einem ähnlichen Muster. Der Serienmörder selbst erhielt bereits zu seinen Lebzeiten im Gefängnis zahlreiche Liebesbriefe, und der von Evan Peters gespielte Charakter weckte bei den Zuschauern eine pervertierte Faszination. Wenn Filmemacher gewaltige Verbrechen in einem ästhetisierten, fast glamourösen Rahmen inszenieren, idealisieren sie damit den Täter.
True-Crime-Formate neigen auch dazu, die Perspektive des Mörders einzunehmen. Anstatt neutral zu berichten, gestalten sie das Storytelling so, dass der Zuschauer Sympathie für die Bösewichte entwickelt. Sie wirken menschlich, ihre Beweggründe nachvollziehbar. Diese Inszenierung mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, doch sie birgt Gefahren. Sie kann dazu führen, dass realen Verbrechern eine Art Starstatus verliehen wird.
Auch die Psychologin Prof. Dr. Sabine Schneider bestätigt den Trend: „Aus psychologischer Sicht stellt diese Glorifizierung des Bösen einen erheblichen Risikofaktor dar. Es ist eine Frage der eigenen Persönlichkeit und Integrität, wie man damit umgeht: Bin ich in der Lage, zwischen Kino und Realität zu unterscheiden? In unserer heutigen Zeit verschwimmen diese Grenzen leider sehr oft, insbesondere durch die Einflüsse der sozialen Medien.“
Sie warnt auch: „Es ist gefährlich, wenn bestimmte Handlungen keine Konsequenzen haben, vor allem, wenn Menschen für Ansichten, die sehr ungesund für uns sind, im Internet gelobt werden, nur weil sie sich selbst sehr gut darstellen können. Deshalb ist es entscheidend, Unterschiede zwischen Gut und Böse klar erkennen zu können. Besonders spielen Werte und die Erziehung des Elternhauses eine wesentliche Rolle.“
Auch Walter White aus der weltweit bekannten Serie Breaking Bad ist ein Spitzenbeispiel. Seine Transformation vom durchschnittlich unterbezahlten Chemielehrer zum Drogenboss wirkt anfangs legitim, weil er seine Familie nach seiner Krebsdiagnose mit dem Verkauf von Methamphetamin finanziell absichern will. Das vermeintlich altruistische Motiv rechtfertigt seine illegalen Aktivitäten. Doch Walter White wird skrupellos, manipulativ und begeht Morde. Trotz seiner eindeutig verkommenen Hybris und seinem moralischen Abstieg gelingt es der Serie, ihn als sympathisches und bewundernswertes Mastermind darzustellen. Die Serie fand bei den Zuschauern riesigen Anklang und gilt bis heute als extrem erfolgreich.
Das Phänomen zeigt sich auch bei Fight Club. Brad Pitt als Tyler Durden inspirierte nicht nur eine Generation zur Rebellion gegen das System, sondern wurde mitunter als Anleitung zu Gewalt missverstanden. In der Schlussszene des Films kollabieren Wolkenkratzer. Die filmische Inszenierung der explodierenden Hochhäuser erinnert stark an die Aufnahmen der brennenden und einstürzenden Twin Towers am 11. September 2001, zwei Jahre nach Veröffentlichung des Films. Die Terrorattacke bleibt als Mahnmal der Geschichte bestehen, denn obwohl direkte Zusammenhänge nicht bewiesen sind, bleibt eine Erkenntnis: Medien beeinflussen die Wahrnehmung der Gesellschaft. Und das Böse verkauft sich bekanntlich besser als das Gute.
Erschütternd ist jedoch, wie sich diese bösartigen Charaktere auch im realen Leben manifestieren. Donald Trump bedient sich nachweislich einer Sprache voller Lügen, Hetze und der Missachtung demokratischer Grundprinzipien. Seine rhetorische Inszenierung als unkonventioneller Außenseiter, der sich gegen das politische System auflehnt, mobilisierte Millionen von Anhängern. Dabei wird er nicht nur als politischer Führer, sondern oft auch als Symbol für eine vermeintliche Rückkehr zu fragwürdigen traditionellen Werten gefeiert.
Ebenso verbreitet Elon Musk als moderner Provokateur gefährliche Verschwörungstheorien und lässt sämtliche Kritiker auf X verstummen, während der Tech-Milliardär statt Empörung vor allem pure Faszination erntet. Das Böse kriecht lautlos in unsere Mitte, nistet sich dort ein, wo es längst verstoßen sein sollte. Und wir heißen es unwissentlich willkommen.
Warum gelten diese Figuren nicht mehr als reale Gefahren, sondern werden als moderne Robin Hoods gefeiert, die sich ohne Konsequenzen über den Status quo hinwegsetzen können? Diese paradoxe Bewunderung für das destruktive Element wirft die Frage auf, ob die Menschheit den schmalen Grat zwischen Rebellion und Selbstzerstörung längst aus den Augen verloren hat. Oder hat sich ein Schleier der Ohnmacht über diese scheinbar unantastbaren Antihelden gelegt, der einem das Gefühl vermittelt, längst nicht mehr Herr der Lage zu sein? Stichwort: „Da kann man eh nix dran ändern.“
Wenn moralische Grenzen verwischen, wenn Gut und Böse nur noch reine Fragen der Interpretation sind, was bleibt dann noch als Orientierungsanker? Gleichzeitig führt die ständige Konfrontation mit ambivalenten Moralvorstellungen zur langsamen, aber sicheren Erosion von starken Werten. Einfache Gut-gegen-Böse-Konzepte werden der Realität nicht mehr gerecht, aber es geht auch nicht darum, ob man das Böse benennen darf, schließlich trägt jeder Mensch seine dunklen Seiten in sich.
Vielmehr dürfen Grenzüberschreitungen nicht einfach passiv hingenommen werden, denn selbstgefällige Resignation untergräbt den Widerstand gegen Unrecht. Stattdessen erfordert es Mut, die Stimme zu erheben und aktiv für Gerechtigkeit zu kämpfen. Nur konsequentes Handeln verhindert, dass das Dunkle zur Normalität wird und der moralische Diskurs der Gesellschaft verfällt.
Verfasse auch du einen Beitrag auf campus a.