
campus a. Wie wird die Welt in zehn Jahren aussehen?
Gerald Karner. Die Prognostizierbarkeit ist in dieser Frage zwar begrenzt, doch es gibt drei Megatrends, die entscheidenden Einfluss haben werden.
campus a. Welche Megatrends sind das?
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Gerald Karner. Trend eins ist Chinas offensichtlicher Produktionsimperativ. Die Industrieproduktion verlagert sich zunehmend nach Asien, mit China als Zentrum. In anderen Regionen wird eher die Zulieferindustrie und die Software-Entwicklung zu finden sein.
China zeigt imperiale Tendenzen.
Gerald Karner. Derzeit sind die chinesischen Tendenzen noch eher subimperial. China will als Regionalmacht vor allem sein unmittelbares Umfeld kontrollieren. Doch das könnte sich zukünftig ändern. Die Volksrepublik besitzt mittlerweile vier Flugzeugträger und wäre zu Übersee-Interventionen befähigt.
campus a. Trend zwei?
Gerald Karner. Nicht nur in den USA, auch in vielen anderen Staaten werden sich autoritäre Systeme durchsetzen. In den USA hat Donald Trump hier nur die Rolle eines Platzhalters inne, einer Symbolfigur. In Wirklichkeit übernimmt gerade eine Gruppe von Oligarchen die Macht. Trump mag Präsident sein, doch Unternehmer wie Elon Musk oder Peter Thiel halten die Fäden in der Hand.
campus a. Was bewegt diese Männer?
Gerald Karner. Sie empfinden traditionelle staatliche Strukturen, von der Gewaltenteilung bis zu den freien Medien, als störend und wollen sie beseitigen. Sie wollen den Staat führen wie eine Firma, mit dem Präsidenten als CEO. Statt Gesetzen gelten Direktiven, die weder die Judikatur beschlossen hat noch Bürger in Frage stellen dürfen. Die Einhaltung der Direktiven ist die Pflicht der Untergebenen. Aus der Sicht dieses Firmendenkens sind Staatsbürger Arbeitnehmer. In Europa gibt es in verschiedenen rechten Strömungen ebenso Vertreter dieses Trends. Viktor Orban etwa. Er geht in die gleiche Richtung, zumindest so weit, wie es im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt.
campus a. Ist die Aushöhlung der Demokratie durch wirtschaftliche Kräfte eine Spätfolge des kapitalistischen Systems?
Gerald Karner. Absolut. Der weltweite Austausch von Gütern, Menschen, Kapital und meinetwegen auch von Problemen folgte lange bestimmten Regeln. Die Zeit der geordneten Globalisierung scheint nun vorbei zu sein. Es erstarkt die Regionalisierung. Es gibt immer noch die Möglichkeit zum Austausch, aber es gibt keine Regeln mehr. Das ist das Beunruhigende, was uns die nächsten zehn Jahre begleiten wird.
campus a. Wie kann eine Gesellschaft die Ausbreitung autoritärer Systeme verhindern?
Gerald Karner. Die entscheidende Frage ist, ob sie weiterhin so passiv bleibt, wie sie es im Moment ist, oder ob sich eine glaubwürdige Gegenbewegung bildet. Eine, die den autoritären Megatrend ablehnt und sich gegen ihn stemmt. Das entscheidet über die nächsten zehn Jahre. Ich weiß nicht, inwieweit sich die Europäer der Umstände eines Lebens in einem autoritären System wie dem Chinas bewusst sind. Wenn wir ein solches Leben für vertretbar halten, dann gnade uns Gott. Ich will das nicht und ich will es auch nicht für meine Kinder.
campus a. Was ist der dritte Megatrend?
Gerald Karner. Autoritäre Staaten neigen eher dazu, Kriege zu führen. Besonders in der Aneignung von Ressourcen gehen sie brutaler vor. Zugänge zu Lebensgrundlagen wie Nahrung, Trinkwasser oder medizinischer Versorgung erschließen sie häufig mit Waffengewalt.
campus a. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Gerald Karner. Die Gewaltbereitschaft autoritärer Systeme verstärkt an vielen Orten die Folgen des Klimawandels. Besonders in der Sahelzone im Subsahara-Raum, einer der ärmsten Regionen der Welt, kommt es zu Entvölkerungen ganzer Regionen. Unterfüttert durch politische und religiöse Konflikte haben die Menschen dort keine vernünftigen Lebensgrundlagen mehr. Dadurch entstehen immer öfter globale Wanderungsbewegungen. Das ist ein Faktum.
campus a. Welche Szenarien ergeben sich aus diesen Wanderungen für Europa?
Gerald Karner. Menschen wanderten in den hunderttausenden Jahren ihrer Existenz immer schon dorthin, wo sie Lebensgrundlagen vorfanden. Seien es Jagdgründe, fruchtbare Böden oder Trinkwasser. Solche globalen Wanderungsbewegungen liegen in unserer Natur. Ich will sie gar nicht Migration nennen. Wir können sie nicht durch Gesetze oder Mauern verhindern. Wenn Europa sagt, das Boot ist voll, verstärken sich hierdurch nur innerafrikanische Konflikte. Der Bevölkerungsdruck wird ins Unglaubliche anschwellen. Die Folge sind noch mehr Konflikte und Wanderungsbewegungen. Gewiss, die Menschen hierzulande sind überfordert, da frühere Integrationsmaßnahmen mangelhaft waren, aber wir müssen lernen, mit diesen Wanderungsbewegungen umzugehen.
campus a. Kann der Westen als Machtblock unter Donald Trump zerbrechen?
Gerald Karner. Er ist bereits zerbrochen. Den Westen als solchen gibt es nicht mehr, seit es Donald Trump gibt.
campus a. Welche Machtblöcke existieren stattdessen?
Gerald Karner. Meiner Meinung nach gibt es derzeit nur zwei wirkliche Machtblöcke, die USA und China. Beide haben eine entsprechende Bevölkerungs-, Territorial-, Wirtschafts- und Militärmacht.
campus a. Und Russland?
Gerald Karner. Russland ist kein Machtblock, sondern hängt am Gängelband Chinas.
campus a. Auch Putin scheint imperiale oder zumindest subimperiale Tendenzen zu zeigen.
Gerald Karner. Wir tendieren dazu, Russland zu überschätzen. Wir sehen es immer noch als Sowjetunion, doch seit deren Auflösung hat Russland hundert Millionen Einwohner verloren. Zudem hat Russland kaum produzierende Industrie, sondern lebt im Wesentlichen vom Export seiner Rohstoffe. Wenn wir Russland sehen, sehen wir dessen Interkontinentalraketen. Ich glaube jedoch, dass Nuklearwaffen zunehmend an Bedeutung verlieren, da sie ohnehin niemand einsetzen kann. Die Konflikte, von denen wir gegenwärtig sprechen, sind keine weltumspannenden Kriege mehr. Ein Weltkrieg ist nicht auszuschließen, nur schrecken davor glücklicherweise alle zurück, weil er unserer aller Vernichtung brächte. Der Einsatz von Nuklearwaffen schließt sich durch ihre bloße Existenz aus. Das ist ihr Paradoxon.
campus a. Die Logik des Kalten Krieges ist aber noch aktuell?
Gerald Karner. Das Gleichgewicht des Schreckens ist nach wie vor in Kraft.
campus a. Kann Donald Trump seine Versprechen halten, Frieden in der Ukraine zu bringen?
Gerald Karner. Die Trump-Administration denkt nicht geostrategisch, sondern rein wirtschaftlich. Statt eines qualifizierten Diplomaten hat sie den Immobilienmakler Steve Witkoff in die Ukraine geschickt. Womit sie in ihren Bemühungen peinlichst gescheitert ist. Die USA haben es nicht geschafft, die Konfliktparteien oder die Stakeholder zusammenzubringen. Europa ist der wichtigste Stakeholder. Ohne eine Aufhebung europäischer Sanktionen hat Russland wenig Motivation für Frieden.
campus a. Wie geht es dann weiter?
Gerald Karner. Ich schätze, dass Russland spätestens 2026 den Krieg ohnehin nicht mehr fortsetzen kann. Im schlechtesten Fall könnte sich der Konflikt für die nächsten zehn Jahre in geringerer Intensität fortsetzen, ähnlich wie er zwischen 2014 und 2022 in der Ostukraine verlief. Auf Dauer kann dieser Konflikt über Russlands Rolle in der Welt entscheiden.
campus a. Inwiefern?
Gerald Karner. Es gibt die realistische Option, dass es zu teils kriegerischen Zerfallskonflikten in Russland kommen könnte. Das hatten wir bereits in Jugoslawien, sobald die dortige Zentralmacht geschwächt genug war.
campus a. War der Aufstand der paramilitärischen Wagner-Gruppe im Juni 2023 ein erstes Omen dieser Option?
Gerald Karner. Absolut. Es gibt auch Anzeichen, dass Ramsan Kadyrows russische Teilrepublik Tschetschenien zu einer Sezession neigen könnte. Auch Kadyrow ist kein Liebhaber von Putin und dessen Zentralmacht in Moskau. Die Beziehung der beiden ist eher symbiotisch. Es geht um Macht und Geld. Gerät der Geldfluss ins Stocken, gibt es keinen Grund mehr, einer ungeliebten Macht treu zu bleiben. Über Tschetschenien hinaus gibt es etliche weitere Teilrepubliken, die ähnlich denken. Russland ist ein Vielvölkerstaat.
campus a. Wie lautet ihre Prognose für den Krieg in Gaza?
Gerald Karner. Israel ist so fest wie noch nie entschlossen, die Hamas zu beseitigen. Dabei wendet das Land sowohl militärische Maßnahmen als auch andere Methoden an. Die jüngsten Demonstrationen gegen die Hamas im Gazastreifen sind vermutlich von Israel unterstützt. Innerhalb der palästinensischen Bevölkerung gibt es aber gewiss tatsächlich auch Menschen, die sagen, die Hamas führe sie ins Verderben. Israel hat immer wieder demonstriert, dass es alles bombardieren wird, wo sich Hamas-Kräfte verstecken. Eine brutale Lösung, aber die Hamas wird es in zehn Jahren wohl nicht mehr geben.
campus a. Was erwartet Europa in Anbetracht dieser Szenarien? Droht uns ein ähnlicher autoritärer Wandel wie in den USA?
Gerald Karner. Diesen Weg halte ich für unwahrscheinlich. Die existenziellen Traumata der letzten beiden Weltkriege sind gesellschaftlich noch tief verankert. Hier tendieren die Menschen eher dazu, sich gegen autoritäre Systeme zu wehren. Für uns sind andere Gefahren weitaus entscheidender.
campus a. Die wären?
Gerald Karner. Mehrere Faktoren üben auf den Kontinent Druck aus. Wir haben bereits über globale Wanderungsbewegungen gesprochen. Dazu kommen die Interessen der Großmächte USA und China. Deswegen braucht Europa ein eigenes Verteidigungsbündnis, ähnlich der NATO. Rüstungsmaßnahmen allein reichen nicht. Wir brauchen eine zentrale Institution, die Mehrheitsentscheidungen für außen- und innenpolitische Beschlüsse in Europa bilden kann. Schaffen wir das nicht, gibt es das heutige Europa zukünftig nicht mehr.
campus a. Welche Gefahren meinen Sie konkret?
Gerald Karner. Sollte es uns nicht gelingen, ein Bündnis zu schaffen, gerät unsere liberale Demokratie mit allen Freiheiten und Menschenrechten unter Druck. Das ist bereits jetzt der Fall. Ich denke da nur an gewisse Äußerungen wie „Das Recht hat der Politik zu folgen“ oder „Man muss die Europäische Konvention der Menschenrechte hinterfragen“. Die Europäische Union ist trotz all ihrer Fehler und Einschränkungen immer noch ein Garant für die Einhaltung der Grund- und Freiheitsrechte. Das ist auch der Grund, weswegen rechte Parteien so stark gegen sie wettern.
campus a. Verbirgt sich in den Herausforderungen Europas nicht auch eine Chance?
Gerald Karner. Durchaus, es ist nur eine Frage des Hirns und des Willens. Sollte ein Verteidigungsbündnis gelingen, könnten wir unsere Freiheiten erhalten. Europa könnte mit dem Wegfall des amerikanischen Schutzes zu mehr Eigenständigkeit finden und als Macht unter den Mächten eine moderierende Rolle einnehmen. Bereits jetzt übertrifft Europas Industrie- und Bevölkerungsmacht jene Russlands. 150 Millionen Einwohnern Russlands stehen 360 Millionen Einwohner Europas gegenüber.
campus a. Zurück zu Donald Trump: Sind seine Bestrebungen, Grönland, Kanada und den Panamakanal zu annektieren, realistisch?
Gerald Karner. Eher nicht. Kanada und Grönland sind keine aktuellen Themen. In beiden Fällen handelt es sich um NATO-Territorium. Das wäre innerhalb der nordatlantischen Vertragsorganisation zu verhandeln. Trumps Bestrebungen sind insofern lächerlich. Grönland hätte dadurch mehr strategische Bedeutung, wodurch mehr Truppen dort stationiert wären. Von wem auch immer diese Truppen sein mögen, es wäre sicherlich keine Okkupation durch die USA. Panama ist ein anderes Thema.
campus a. Wieso?
Gerald Karner. Bei Panama geht es darum, unter welchen Bedingungen der Kanal passierbar ist. Derzeit verwalten chinesisch dominierte Gesellschaften den Kanal und kassieren Gebühren. Die USA zahlen an sie. Trump sagt nun: „Wir haben den Kanal gebaut, aber die Chinesen verdienen damit.“ Am liebsten will er den Kanal kostenlos durchqueren können oder ihn besitzen und selbst kassieren. Das ist wieder diese Firmen-Logik, die er oft vertritt. So, wie er es ausdrückt, nehme ich das weder ernst noch halte ich es für realistisch.
campus a. Danke für das Gespräch.
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