
Der Kopf brummt vom Arbeitstag, die Kindergeburtstagsparty steht an und die Steuererklärung wartet noch immer auf dem Schreibtisch? Wer kennt ihn nicht, diesen Moment, in dem alle Energiereserven erschöpft scheinen und doch noch so viel zu tun ist. Die Frage drängt sich auf: Woher jetzt noch Kraft nehmen?
Eine Gruppe von Menschen kennt diese Grenzsituationen besonders gut: Langdistanz-Triathleten. Sie schwimmen 3,8 Kilometer, steigen völlig erschöpft aus dem Wasser, nur um dann 180 Kilometer Rad zu fahren. Gefolgt von einem Marathon über 42,195 Kilometer. Wie halten sie das durch? Und was können wir von ihrem mentalen Werkzeugkasten für unseren eigenen Alltag lernen?
Aufgeben ist keine Option (Foto: Franziska Höller)
Franziska Höller, 40 Jahre alt, ist eine dieser Athletinnen. Gerade hat sie die Schwimmstrecke bewältigt. Ihr Körper schreit nach einer Pause. Doch Pausieren ist keine Option. Jetzt beginnt der nächste Abschnitt. Franzi, wie alle sie nennen, ist eine Frau, die durchzieht, was sie sich vornimmt. Auch wenn der Körper streikt.
Sie legt die Finger an die Stirn, atmet durch und ruft sich in Erinnerung, was sie sich für genau diesen Moment zurechtgelegt hat: Mentale Strategien für die Krisenzeiten. Sie denkt nicht an die noch vor ihr liegenden 220 Kilometer. Sie denkt nur an den nächsten Meter. „Du stehst auch nicht vor dem Mount Everest und nimmst dir die gesamten 8.000 Höhenmeter auf einmal vor. Du gehst Etappe für Etappe“, erklärt sie.
Ein weiteres ihrer Mantras, das sich durch ihre sportliche wie auch berufliche Karriere zieht: „Sorgen und Zweifel sind in den Gedanken immer schlimmer als in der Realität.“
Triathleten wie Franzi wissen: Die körperliche Vorbereitung ist nur ein Teil des Erfolgs. Der entscheidende Faktor ist der Kopf. Sie kommen im Training und Wettkampf regelmäßig an ihre Grenzen. Und müssen trotzdem weiter. Dabei machen sie immer wieder die gleiche Erfahrung: Es geht. Wenn der Kopf mitspielt, geht es weiter.
Franziska Höller balanciert einen anspruchsvollen Vollzeitjob mit der Vorbereitung auf eine der härtesten sportlichen Herausforderungen der Welt. Zwischen Meetings und Marathons behält sie einen klaren Kopf. Rückschläge? Gehören für sie dazu. Ja, sie sind sogar willkommen. „Je mehr Rückschläge, desto mehr Lernmaterial.“
Fehler sind zum Lernen da. Sie lebt nach dem Prinzip „trial and error“. Ausprobieren, scheitern, aufstehen, besser machen. Immer wieder. Denn: „Je öfter man fällt, desto besser wird man im Aufstehen.“ Der Weg sei dabei wichtiger als das Ziel. Eine Medaille oder ein Zielleinlauf seien das Sahnehäubchen. Wichtiger ist: der Weg dahin muss Spaß machen.
Ein weiteres, meditatives Tool hat sie in ihren Alltag eingebaut: das Spazierengehen. Morgens, vor der Arbeit. Allein, immer die gleiche Strecke, ein bis zwei Stunden lang. Kein Podcast, kein Handy, keine Musik.
Die Monotonie des Gehens, der gleichbleibende Rhythmus. Das ist es, was Franzi ihren Fokus finden lässt. Die Gedanken ordnen sich wie von selbst. Und die mentale Klarheit, die sie auf diesem Weg gewinnt, zieht sich durch den gesamten Tag.
Auch Tobias Berthold, genannt Berti, kennt seine Grenzen gut. Bereits drei Langdistanz-Triathlons hat er absolviert und dabei wird es nicht bleiben. „Das Triathlon-Training gibt mir Struktur für den Alltag. Es lässt mich im Job systematischer und effizienter werden.“ Berti nutzt die langen Trainings-Einheiten als persönliche „me-time“. Erstellt Einkaufslisten im Kopf. Ordnet To-Do’s. Er reflektiert und kommt mit sich ins Reine.
Aber braucht es wirklich einen Marathon, um mentale Stärke aufzubauen? „Ich denke, es ist die Struktur und die Ordnung des Trainings, was sich auf den Kopf überträgt. Ich lerne dadurch Prioritäten zu setzen und meine Zeit wertvoll einzuteilen.“
Während des Rennens führt er regelmäßig Zwiegespräche mit sich selbst. Negative Gedanken tauchen auf, manchmal laut, manchmal leise. „Ich lerne, mit dem inneren Kritiker umzugehen“, sagt er. Er lässt die Zweifel kommen und wieder gehen. Sobald sie verblassen, hält er sich an den positiven Gedanken fest. Was bleibt, ist Zuversicht.
Augen aufs Ziel: Berti rennt mit mentaler Stärke (Foto: Tobias Berthold)
Ein Langdistanz-Triathlon kann bis zu 18 Stunden dauern. Genug Zeit, um sich plötzlich mit den banalsten Gedanken zu beschäftigen. Umso wichtiger ist es für Berti, mit einem freien Kopf zu starten. Für ihn bedeutet das: offene Konflikte klären, bevor der Wettkampf beginnt. „Selbst, wenn wir uns monatelang nicht gesprochen haben. Ich rufe an, ich mache reinen Tisch.“
Was zunächst wie eine persönliche Eigenheit klingt, ist in Wahrheit eine kraftvolle Einsicht: Ungeklärtes belastet. In der Hektik des Alltags schieben wir Konflikte gerne zur Seite. Und merken kaum, wie sie uns dennoch begleiten. Im Unterbewusstsein nagen sie weiter, rauben Ruhe, Energie und Klarheit.
Von Berti lässt sich lernen: Struktur im Außen schafft Ordnung im Inneren. Bewegung wird zum Ventil für Gedanken und zur Chance, sich mit den eigenen Zweifeln auseinanderzusetzen. Denn: Nur wer den Mut hat, hinzusehen, kann Konflikte wirklich lösen. Ob mit sich selbst oder mit anderen.
Freudestrahlend über die Ziellinie (Foto: Marius Pietzonka)
Weniger heldenhaft, dafür umso konsequenter geht Marius Pietzonka sein Projekt Triathlon an. Der 29-Jährige bereitet sich derzeit auf seine zweite Langdistanz vor. Den ersten Wettkampf absolvierte er im Juni 2023 in Hamburg. Als persönliche Herausforderung. „Ich wollte es mir selbst beweisen.“
Mit einer Zielzeit von etwas mehr als elf Stunden hat er das längst getan. Und doch tritt er erneut an. Warum? „Ohne das Training war ich viel unstrukturierter. Auch außerhalb des Sports habe ich einfach weniger gemacht.“
Für den Hobby-Athleten ist der Triathlon weniger eine emotional aufgeladene Angelegenheit als Mittel zum Zweck. Ähnlich wie Berti nutzt er den Sport als Rahmen, der ihm hilft, bewusst mit seiner Zeit umzugehen. „Wenn meine Freizeit automatisch durch das Training begrenzt ist, versuche ich, die verbleibende Zeit so sinnvoll wie möglich zu gestalten.“
Kein zielloses Scrollen, kein Serienmarathon. Dafür echte Zeit mit Freunden, Fokus auf das Wesentliche.
Mantras oder innere Sätze braucht Marius nicht, wenn es mal schwierig wird. Er schwört auf eine andere Devise „Wenn ich mich für etwas entschieden habe, dann ziehe ich es einfach durch. Ich hinterfrage nicht.“
Kein wieso, weshalb, warum. Mit der Entscheidung ist klar: Fous aufs Ziel, der Weg dorthin darf holprig sein. Dennoch revidiert er seine Entscheidung nicht.
Mit Absolvieren der ersten Langdistanz haben sich Marius‘ Ansprüche an sich selbst verändert. Er traut sich mehr zu. Seine Grenzen liegen höher. Was einst so unerreichbar, so übermenschlich wirkte, hat er bereits erreicht. Die Erkenntnis: Der Körper kann mehr, als der Kopf ihm zutraut. Was Marius bedauert: „Mit dem Finishen des Triathlons war plötzlich der Reiz etwas weg. Ich hatte mir das Gefühl aufregender vorgestellt. Manchmal muss ich mich erinnern, wieder stolz auf die Leistung zu sein.“
Auch das ist Teil der Wahrheit: Große Ziele verlieren ihren Reiz, wenn sie erreicht sind. Was bleibt, ist die Erkenntnis: der Weg verändert oft mehr als das Ankommen. Manche Hürden wirken auf den ersten Blick unüberwindbar. Aber einmal angefangen, ergibt sich der weitere Weg. Schritt für Schritt. Versuchen, scheitern, lernen und weitermachen. Und: Die Gedanken hin und wieder bewusst zur Seite schieben und dem Körper vertrauen.
Es geht nicht darum, einen Ironman zu absolvieren. Es geht darum, mit mentaler Stärke auch die täglichen Herausforderungen zu meistern. Denn was Triathleten wie Franzi, Berti und Marius uns vormachen, ist zutiefst menschlich: Nicht aufgeben, auch wenn der Körper nein sagt. Kleine Schritte machen. Fehler als Fortschritt sehen. Und immer wieder aufstehen.
Vielleicht liegt der Schlüssel zu einem kraftvolleren Alltag nicht im perfekten Zeitmanagement, sondern im richtigen Mindset. Und vielleicht reicht schon ein Spaziergang am Morgen, um den Marathon des Tages zu bestehen.
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